Johannes Calvin, Antwort an Kardinal Sadolet (1539)
Nachdem der Genfer Stadtrat Johannes Calvin (1509–64) wegen Ungehorsam aus der Stadt ausgewiesen hatte (April 1538), richtete Jacob Sadolet (1477–1547), seit 1517 Bischof von Carpentras (Südfrankreich), seit 1536 Kardinal und Mitglied der von Papst Paul III. berufenen Reformkommission, einen offenen Brief an die Bevölkerung in Genf (März 1539). Die Antwort erfolgte im September von Straßburg aus durch Calvin, der in seiner »Responsio ad Sadoletum« in knapper Form Rechenschaft über das Anliegen der Reformation gab.
[Auszüge]
Kennzeichen rechter Kirche
Auf drei Teilen steht und stützt sich am ehesten die Unversehrtheit der Kirche: auf Lehre, Ordnung und Sakramente; viertens können noch die Zeremonien hinzu-kommen, die das Volk in den Pflichten der Frömmigkeit üben sollen. Wenn nun das Ansehen Eurer Kirche möglichst geschont werden soll, in welchem Teil sollen wir sie Deiner Meinung nach prüfen?
Die Wahrheit prophetischer und evangelischer Lehre, auf der eine Kirche gegründet sein muß, ging nicht nur großenteils zugrunde, noch mehr, sie wurde feindselig mit Feuer und Schwert bekämpft. Möchtest Du mir eine solche Kirche aufdrän‑
gen, die alles erbittert verfolgt, was die Hauptartikel unserer Religion ausmacht, Was Gottes Aussprüche ans Licht brachten, was auch in den Schriften der heiligen Väter seine Bestätigung erfuhr und was auf den alten Konzilien angenommen ist? Ferner, besteht denn noch eine Spur von jener heiligen wahren Zucht bei Euch, die die alten Bischöfe in der Kirche übten? Habt Ihr nicht alle ihre Einrichtungen zum Gespött werden lassen? Habt Ihr nicht alle alten Leitsätze mit Füßen getreten? Und daran, wie bei Euch böswillig die Sakramente entweiht sind, mag ich nur mit Schaudern denken. Zeremonien habt Ihr zwar mehr als genug. Aber was können sie schon die Kirche stärken helfen, wenn sie großenteils ihres rechten Ausdrucks entkleidet und durch zahllose Formen von Aberglauben verdorben sind? Du siehst, ich brauche die Anklagen nicht zu übertreiben. Sie liegen alle so offen zutage, daß man mit dem Finger darauf tippen möchte, wenn überhaupt Augen da sind, die sehen können. Nun mache bitte einmal die Gegenprobe bei uns. Du wirst die Verbrechen, die Du uns vorwirfst, nicht nachweisen können.
bei den Sakramenten haben wir nur versucht, sie in ihrer ursprünglichen Reinheit, von der sie weit abgekommen waren, wiederherzustellen und ihnen wieder zu ihrer rechten Wertschätzung zu verhelfen. Die Zeremonien haben wir großen-teils abgeschafft. Wir waren tatsächlich dazu gezwungen; teils waren sie durch ihre Überzahl zu einer Art jüdischem Geschäft entartet, teils brachten sie in das Denken des Volkes so viel Aberglauben, daß das auf keinen Fall so bleiben konnte. Denn der Frömmigkeit, die sie fördern sollten, standen sie gerade am meisten im Wege. Behalten haben wir die, welche nach gegenwärtigem Verständnis [pro temporis ratione] hinreichend schienen.
Wir stellen keineswegs in Abrede, daß bei uns die Zucht, wie sie die alte Kirche hatte, fehlt. Aber ist das nun richtig, daß wir wegen der abgetanen Kirchenzucht in denen unsere Ankläger finden, die sie selber allein schon fast beseitigt haben? Wer bereitete uns größten Widerstand, als wir sie wieder einzuführen suchten?
Die Rechtfertigungslehre
Du selbst sprichst uns übrigens durch Dein eigenes Verhalten frei: unter unsern Glaubenssätzen, die Du erledigen willst, führst Du keinen an, dessen Kenntnis nicht zur Erbauung [aedificatio] der Kirche besonders notwendig ist. Zunächst rührst Du an die Rechtfertigung aus Glauben. Hierüber ist ja zwischen uns und Euch hauptsächlich erbittert gerungen worden. Ist dies denn eine unnütze Spitzfindigkeit? Jedoch nimm diese Erkenntnis fort, dann ist Christi Ehre ausgelöscht, die Religion abgeschafft, die Kirche niedergerissen und uns jede Hoffnung auf Rettung entschwunden. Also jener Glaubenssatz, der in der [christlichen] Religion am höchsten steht, ist von Euch — so behaupten wir — aus dem lebendigen Bewußtsein der Menschen in gottloser Weise getilgt. Mit dem klaren Beweis hierfür sind unsere Bücher angefüllt. Die völlige Unkenntnis hierüber, die man noch heutzutage in Euren Kirchen antrifft, beweist, daß man sich ganz zu Unrecht über uns beschwert. Du wirfst uns hier recht böswillig vor: dadurch, daß wir dem Glauben alles übertrügen, ließen wir den Werken keinen Platz. Wenn ich mich hier auf eine richtige Auseinandersetzung einließe, könnte sie nur in einem umfangreichen Band abgeschlossen werden. Doch wenn Du nur einen Blick in den Katechismust werfen möchtest, den ich selbst für die Genfer verfaßte, als ich dort Pastor war [gemeint ist Calvins »Instruction et Confession de Foy« von 1537], würdest auch Du Dich schon nach kurzem geschlagen geben müssen und verstummen. Ich möchte Dir hier aber mit einer kurzen Darlegung unseres Standpunktes helfen.
Wir achten streng darauf, daß der Mensch mit seiner Selbsterkenntnis den Anfang macht, und zwar nicht so leichthin und nebenbei, sondern so, daß er sein Gewissen vor Gottes Richterstuhl stellt. Von seiner Unbotmäßigkeit wird er dann tief durchdrungen. Die Strenge solchen Richtspruches trifft alle Sünder. So sinkt er vor Gott hin und demütigt sich, denn sein Elend brachte ihn ins Wanken und erschütterte ihn. Alles Selbstvertrauen ist abgelegt, nur Seufzer eines zum Tode Verurteilten bleiben ihm. Hier zeigen wir ihm, daß die einzige Rettungsmöglichkeit in Gottes Barmherzigkeit offensteht. In Christus haben wir dies Angebot. Unser ganzes Heil liegt in ihm vollkommen bereit. Wenn also alle Sterblichen vor Gott Sünder sind — so ist unsere Überzeugung —, ist Christus unsere einzige Gerechtigkeit. Durch seinen Gehorsam hat er unsere Übertretungen ausgelöscht, durch sein Opfer den Zorn besänftigt, mit seinem Blut unsere Flecken beseitigt, mit seinem Kreuz unsere Verurteilung auf sich genommen, und schließlich mit seinem Tode für uns alles beglichen. Hierher stammt unser Satz, der Mensch werde mit Gott dem Vater durch Christus versöhnt, — durch kein eigenes Verdienst, durch keine Anrechnung von Werken, sondern durch das Geschenk der Barmherzigkeit. Da wir aber im Glauben Christus umfassen und gleichsam mit ihm tauschen möchten, nennen wir es in Anlehnung an die Heilige Schrift Glaubensgerechtigkeit.
in Auszügen zit. nach: Heiko A. Oberman, Die Kirche im Zeitalter der Reformation, Neukirchen-Vlyn 1994, Dok. 91, S. 187-190
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.