Luther an Erasmus von Rotterdam, 28. März 1519
Eröffnung der Korrespondenz zwischen Luther und Erasmus
So oft plaudere ich mit Dir und Du mit mir, lieber Erasmus, unsere Zierde und unsere Hoffnung, und doch kennen wir uns gegenseitig noch nicht; ist dies nicht etwas ganz Seltsames? Doch nein, nicht etwas Seltsames, sondern etwas, was gewiß täglich vorkommt. Denn wen gibt es, dessen Herz Erasmus nicht ganz einnimmt, den Erasmus nicht belehrt, in dem Erasmus nicht herrscht? Ich rede von denen, welche die Wissenschaft recht lieben. Denn ich freue mich sehr, daß unter die übrigen Gaben Christi auch die gerechnet wird, daß Du vielen mißfällst. Durch dieses Kennzeichen pflege ich die Gaben des gnädigen Gottes von denen des zürnenden zu unterscheiden. Deshalb wünsche ich Dir Glück, daß, während Du allen edlen Menschen aufs höchste gefällst, Du denen nicht weniger mißfällst, welche allein von allen die angesehensten sein und aufs höchste gefallen wollen.
Doch ich bin töricht, daß ich Dich, einen so großen Mann, so unvorbereitet, ohne Ehrerbietung und ohne ehrende Einleitung gleichsam als einen ganz vertrauten Freund anspreche, ein Unbekannter den Unbekannten. Aber Du wirst das in Deiner Menschlichkeit entweder meiner Liebe oder meiner Unerfahrenheit zugute halten, der ich zwar mein Leben unter Sophisten zugebracht, aber doch nicht so viel gelernt habe, daß ich einen gelehrten Mann brieflich begrüßen könnte. Sonst würde ich Dich schon mit wer weiß wie vielen Briefen belästigt haben, und ich hätte es nicht ausgehalten, daß Du immer nur in meinem Kämmerlein mit mir redest.
Da ich nun von dem verehrten Fabricius Capito erfahren habe, daß Dir mein Name durch den nichtsnutzigen Ablaßhandel bekannt ist, dann auch aus der Vorrede1 zu Deinem ganz kürzlich erschienenen Enchiridion, daß Du meine belanglosen Äußerungen nicht bloß gesehen, sondern auch gebilligt hast, so fühle ich mich genötigt, in einem, wenn auch ganz ungebildet geschriebenen Briefe, Deinen hervorragenden Geist anzuerkennen, der meinen und den Geist aller bereichert. Ich weiß, du wirst Dir nur sehr wenig daraus machen, daß ich Dir brieflich meine Liebe und meinen Dank ausdrücke. Du bist damit völlig zufrieden, daß Dir das Herz in verborgener Dankbarkeit und Liebe vor Gott zugetan ist. Auch wir haben daran genug, daß wir Deine Liebe und Deinen Dienst in Schriften besitzen, ohne Dich zu kennen, ohne brieflichen Verkehr und persönlichen Umgang mit Dir. Trotzdem duldet es weder der Anstand noch das Gewissen, diese Dankbarkeit nicht auch in Worten auszudrücken, besonders da auch mein Name bekannt zu werden beginnt, damit niemand meine, das Schweigen sei böswillig und sehr häßlicher Natur.
Philipp Melanchthon geht es gut, nur können wir alle es kaum verhindern, daß nicht durch sein Übermaß an wissenschaftlichem Eifer auch seine Gesundheit Schaden leide. Denn bei seiner Jugendhitze brennt er vor Verlangen, allen alles zugleich zu werden und zu tun. Du würdest uns einen Dienst leisten, wenn Du diesen Mann brieflich ermahnen wolltest,2 daß er sich uns und der Wissenschaft erhalte. Denn wenn er uns erhalten bleibt, dann weiß ich nicht, was mehr wir uns erhoffen können.
Andreas Karlstadt, der in Dir Christus hoch ehrt, läßt Dich grüßen. Der Herr Jesus selbst erhalte Dich in Ewigkeit, liebster Erasmus. Ich habe viel Worte gemacht, doch bedenke, daß man nicht immer gelehrte Briefe lesen kann; bisweilen mußt Du auch schwach sein mit den Schwachen.
1 Im Herbst 1518 war eine Neuausgabe von Erasmus' Enchiridion militis Christiani erschienen, Luther denkt bei seinen Worten an die Vorrede an den Abt von Hugshofen, Paul Volz, in dieser Ausgabe.
2 Erasmus ist dieser Aufforderung in einem Brief an Melanchthon vom 22. April 1519 nachgekommen.
WA Br 1, 361-363. Nr. 163. Lateinisch, in deutscher Übersetzung vollständig wiedergegeben bei Kurt Aland, Luther deutsch, Bd. 10, Stuttgart 1959, S. 140-143.
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