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Thomas Mann, Deutschland und die Deutschen. Vortrag in der Library of Congress, Washington, Ende Mai 1945
Martin Luther, eine riesenhafte Inkarnation deutschen Wesens, war außerordentlich musikalisch. Ich liebe ihn nicht, das gestehe ich offen. Das Deutsche in Reinkultur, das Separatistisch-Antirömische, Anti-Europäische befremdet und ängstigt mich, auch wenn es als evangelische Freiheit und geistliche Emanzipation erscheint, und das spezifisch Lutherische, das Cholerisch-Grobianische, das Schimpfen, Speien und Wüten, das fürchterlich Robuste, verbunden mit zarter Gemütstiefe und dem massivsten Aberglauben an Dämonen, Incubi und Kielkröpfe, erregt meine instinktive Abneigung. Ich hätte nicht Luthers Tischgast sein mögen, ich hätte mich wahrscheinlich bei ihm wie im trauten Heim eines Ogers gefühlt und bin überzeugt, daß ich mit Leo X., Giovanni de' Medici, dem freundlichen Humanisten, den Luther »des Teufels Sau, der Babst« nannte, viel besser ausgekommen wäre. Auch erkenne ich den Gegensatz von Volkskraft und Gesittung, die Antithese von Luther und dem feinen Pedanten Erasmus gar nicht als notwendig an. Goethe ist über diesen Gegensatz hinaus und versöhnt ihn. Er ist die gesittete Voll- und Volkskraft, urbane Dämonie, Geist und Blut auf einmal, nämlich Kunst... Mit ihm hat Deutschland in der menschlichen Kultur einen gewaltigen Schritt vorwärts getan — oder sollte ihn getan haben; denn in Wirklichkeit hat es sich immer näher zu Luther als zu Goethe gehalten. Und wer wollte leugnen, daß Luther ein ungeheuer großer Mann war, groß im deutschesten Stil, groß und deutsch auch in seiner Doppeldeutigkeit als befreiende und zugleich rückschlägige Kraft, ein konservativer Revolutionär. Er stellte ja nicht nur die Kirche wieder her; er rettete das Christentum. Man ist in Europa gewohnt, der deutschen Natur den Vorwurf der Unchristlichkeit, des Heidentums zu machen. Das ist sehr anfechtbar. Deutschland hat es mit dem Christentum am aller-ernstesten genommen. In dem Deutschen Luther nahm das Christentum sich kindlich und bäuerlich tiefernst zu einer Zeit, als es sich anderwärts nicht mehr ernst nahm. Luthers Revolution konservierte das Christentum — ungefähr wie der New Deal die kapitalistische Wirtschaftsform zu konservieren gemeint ist, — wenn auch der Kapitalismus das nicht verstehen will.
Nichts gegen die Größe Martin Luthers! Er hat nicht nur durch seine gewaltige Bibelübersetzung die deutsche Sprache erst recht geschaffen, die Goethe und Nietzsche dann zur Vollendung führten, er hat auch durch die Sprengung der scholastischen Fesseln und die Erneuerung des Gewissens der Freiheit der Forschung, der Kritik, der philosophischen Spekulation gewaltigen Vorschub geleistet. Indem er die Unmittelbarkeit des Verhältnisses des Menschen zu seinem Gott herstellte, hat er die europäische Demokratie befördert, denn »Jedermann sein eigener Priester«, das ist Demokratie. Die deutsche idealistische Philosophie, die Verfeinerung der Psychologie durch die pietistische Gewissensprüfung, endlich die Selbstüberwindung der christlichen Moral aus Moral, aus äußerster Wahrheitsstrenge — denn das war die Tat (oder Untat) Nietzsche's —, dies alles kommt von Luther. Er war ein Freiheitsheld, — aber in deutschem Stil, denn er verstand nichts von Freiheit. Ich meine jetzt nicht die Freiheit des Christenmenschen, sondern die politische Freiheit, die Freiheit des Staatsbürgers — die ließ ihn nicht nur kalt, sondern ihre Regungen und Ansprüche waren ihm in tiefster Seele zuwider. Vierhundert Jahre nach ihm sprach der erste Präsident der Deutschen Republik, ein Sozialdemokrat, das Wort: »Ich hasse die Revolution wie die Sünde.« Das war echt lutherisch, echt deutsch. So haßte Luther den Bauernaufstand, der, evangelisch inspiriert, wie er war, wenn er gesiegt hätte, der ganzen deutschen Geschichte eine glücklichere Wendung, die Wendung zur Freiheit hätte geben können, in dem aber Luther nichts als eine wüste Kompromittierung seines Werkes, der geistlichen Befreiung sah und den er darum bespie und verfluchte, wie nur er es konnte. Wie tolle Hunde hieß er die Bauern totschlagen und rief den Fürsten zu, jetzt könne man mit Schlachten und Würgen von Bauernvieh sich das Himmelreich erwerben. Für den traurigen Ausgang dieses ersten Versuchs einer deutschen Revolution, den Sieg der Fürsten nebst allen seinen Konsequenzen, trägt Luther, der deutsche Volksmann, ein gut Teil Verantwortung.
Damals lebte in Deutschland ein Mann, dem meine ganze Sympathie gehört, Tilman Riemenschneider, ein frommer Kunstmeister, ein Bildhauer und Holzschnitzer, hochberühmt für die treue und ausdrucksvolle Gediegenheit seiner Werke, dieser figurenreichen Altarbilder und keuschen Plastiken, die, vielbegehrt, über ganz Deutschland hin die Andachtsstätten schmückten. Ein hohes menschliches und bürgerliches Ansehen hatte der Meister sich in seinem engeren Lebenskreise, der Stadt Würzburg, auch erworben und gehörte ihrem Rate an. Nie hatte er gedacht, sich in die hohe Politik, die Welthändel zu mischen, — es lag das seiner natürlichen Bescheidenheit, seiner Liebe zum freien und friedfertigen Schaffen ursprünglich ganz fern. Er hatte nichts vom Demagogen. Aber sein Herz, das für die Armen und Unterdrückten schlug, zwang ihn, für die Sache der Bauern, die er für die gerechte und gottgefällige erkannte, Partei zu nehmen gegen die Herren, die Bischöfe und Fürsten, deren humanistisches Wohlwollen er sich leicht hätte bewahren können; es zwang ihn, ergriffen von den großen und grundsätzlichen Gegensätzen der Zeit, herauszutreten aus seiner Sphäre rein geistiger und ästhetischer Kunstbürgerlichkeit und zum Kämpfer zu werden für Freiheit und Recht. Seine eigene Freiheit, die würdige Ruhe seiner Existenz gab er daran für diese Sache, die ihm über Kunst und Seelenfrieden ging. Sein Einfluß war es hauptsächlich, der die Stadt Würzburg bestimmte, der >Burg<, dem Fürstbischof die Heeresfolge gegen die Bauern zu verweigern und überhaupt eine revolutionäre Haltung gegen ihn einzunehmen. Er hatte furchtbar dafür zu büßen. Denn nach der Niederwerfung des Bauernaufstandes nahmen die siegreichen historischen Mächte, gegen die er sich gestellt, grausamste Rache an ihm; Gefängnis und Folter taten sie ihm an, und als gebrochener Mann, unfähig hinfort, aus Holz und Stein das Schöne zu erwecken, ging er daraus hervor.
Auch das gab es in Deutschland, auch das hat es immer gegeben. Aber das spezifisch und monumental Deutsche ist es nicht. Dieses stellt Luther dar, der musikalische Theolog. Er brachte es im Politischen nicht weiter, als daß er beiden Parteien, den Fürsten und den Bauern, unrecht gab, was nicht verfehlen konnte, ihn bald dahin zu führen, daß er nur noch und bis zur berserkerhaften Wut den Bauern unrecht gab. Seine Innerlichkeit hielt es ganz und gar mit dem Paulinischen »Sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über dich hat«. Aber das hatte sich ja auf die Autorität des römischen Weltreiches bezogen, das die Voraussetzung und der politische Raum war für die christliche Weltreligion, während es sich im Falle Luthers um die reaktionäre Winkelautorität der deutschen Fürsten handelte. Seine antipolitische Devotheit, dies Produkt musikalisch deutscher Innerlichkeit und Unweltlichkeit, hat nicht nur für die Jahrhunderte die unterwürfige Haltung der Deutschen vor den Fürsten und aller staatlichen Obrigkeit geprägt; sie hat nicht nur den deutschen Dualismus von kühnster Spekulation und politischer Unmündigkeit teils begünstigt und teils geschaffen. Sie ist vor allem repräsentativ auf eine monumentale und trotzige Weise für das kerndeutsche Auseinanderfallen von nationalem Impuls und dem Ideal politischer Freiheit. Denn die Reformation, wie später die Erhebung gegen Napoleon, war eine nationalistische Freiheitsbewegung.[...]
Die große Geschichtstat der deutschen Innerlichkeit war Luthers Reformation — wir haben sie eine mächtige Befreiungstat genannt, und also war sie doch etwas Gutes. Daß aber der Teufel dabei seine Hand im Spiel hatte, ist offensichtlich. Die Reformation brachte die religiöse Spaltung des Abendlandes, ein ausgemachtes Unglück, und sie brachte für Deutschland den Dreißigjährigen Krieg, der es entvölkerte, es verhängnisvoll in der Kultur zurückwarf und durch Unzucht und Seuchen aus dem deutschen Blut wahrscheinlich etwas anderes und Schlechteres gemacht hat, als es im Mittelalter gewesen sein mag. Erasmus von Rotterdam, der das >Lob der Torheit< schrieb, ein skeptischer Humanist von wenig Innerlichkeit, sah wohl, wovon die Reformation trächtig war. »Wenn du furchtbare Wirrnisse in der Welt wirst entstehen sehen«, sagte er, »dann denke daran, daß Erasmus sie vorausgesagt hat.« Aber der gewaltig innerliche Grobian von Wittenberg war kein Pazifist; er war voll deutscher Bejahung tragischen Schicksals und erklärte sich bereit, das Blut, das da fließen würde, »auf seinen Hals zu nehmen«. —
Thomas Mann, Reden und Aufsätze Bd. 3, Frankfurt 1990, S. 1126-1148 (Auszüge S. 1132 ff.)
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