Das Ende der Demokratie. Friedrich Stampfer über den 30. Januar 1933
Als dies geschah, waren seit dem November 1918 vierzehn Jahre und drei Monate vergangen. Deutschland war wieder Großmacht und saß im Rat des Völkerbundes. Seine Gleichberechtigung, grundsätzlich auch die militärische, war anerkannt. Die Reparationen waren gestrichen, das Rheinland war seit drei Jahren - fünf Jahre vor Ablauf der Räumungsfristen - wieder frei. Die Rettung der deutschen Ehre durch Adolf Hitler gehört in das Reich der propagandistischen Geschichtslügen.
Das persönliche Regiment Wilhelm II. und die Militärdiktatur Ludendorffs hatten Deutschland in den Abgrund geführt. Die Republik befreite es von dem schweren Druck der Niederlage. Im Innern brachte sie das Ende der politischen Klassenprivilegien, der Gesinnungssklaverei, des Herr-im-Hause-Standpunktes. Sie machte den Arbeiter und die Frau zu gleichberechtigten Staatsbürgern. Sie gab dem deutschen Volk die menschlich-freieste Zeit seiner bisherigen Geschichte. Schöpfer und Träger der Republik war vor allem der Teil der deutschen Arbeiterklasse, der in den Reihen der Sozialdemokratischen Partei marschierte. Von einem Teil seiner Klassengenossen verlassen, ohne Mehrheit im Volke, suchte und fand er zeitweilig seine Bundesgenossen bei dem freiheitlich gesinnten Teil des politischen Katholizismus und der bürgerlichen Mittelparteien. Die Republik zerbrach an der Weltwirtschaftskrise. Es fehlte die Kraft, die imstande gewesen wäre, durch Maßnahmen eines praktischen Sozialismus die Krise zu mildern oder zu beseitigen. Es fehlte aber auch bei der Mehrheit des Volkes das Verständnis für den Wert der freiheitlichen Einrichtungen des Staates und der Wille, sie vor den Erschütterungen der Krise zu bewahren. So gewann der fanatische Machtwille einer Minderheit die Oberhand. Die meisten wussten gar nicht, was ihnen geschah. Deutschland schlitterte in die HitlerDiktatur, wie es 1914 in den Weltkrieg geschlittert war. Die nationalsozialistische Bewegung war entstanden als eine Mobilisierung notleidender Kleinbürger und Bauern und politisch zurückgebliebener Schichten der Arbeiter, Angestellten und Beamten. Sie entsprach in ihrer sozialen Zusammensetzung jener Masse, die von der Sozialdemokratie der Kaiserzeit als die „Hurrakanaille" bekämpft und verachtet wurde. Angehörige der alten Herrenschicht, Großkapitalisten, Großagrarier, Aristokraten und Offiziere öffneten ihr - in der Absicht, sich ihrer als Herrschaftsinstrument zu bedienen - den Weg zur Macht. Die Verteilung der Siegesbeute, wie sie durch die Bildung der „nationalen Regierung" am 30. Januar 1933 erfolgt war, wurde vier Wochen später durch den Reichstagsbrand korrigiert. Zum erstenmal kam der ersehnte Diktator nicht von oben, sondern - als eine Missgeburt der demokratischen Entwicklung - von ganz unten. Die Demokratie wurde abgelöst durch die Tyrannis ... Die Republik entsprang dem Geist der Humanität, der das deutsche Volk im Lauf seiner Geschichte in dreifacher Gestalt erfasst hatte: der christlichen, der liberalen und der sozialistischen. Das Dritte Reich bekämpft ihn in jeder dieser drei Gestalten, denn es entspringt einem Geist, der jenem der Humanität geradewegs entgegengesetzt ist.
Stampfer, Die ersten 14 Jahre der Deutschen Republik, S. 669 ff.
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