Auszug aus einem Artikel der "Oberhessischen Zeitung" vom 20. Mai 1926, in dem diese versucht, ihren Lesern die Einrichtung der "Wanderarbeitsstätten" zu erklären.
Wanderarbeitsstätte
Sehr vielen Bewohnern der Stadt Marburg ist es noch nicht bekannt, welche Tätigkeit und Fürsorge die in hiesiger Stadt sich befindende Wanderarbeitsstätte entfaltet. [...]
Die Inflationszeit mit ihren Folgeerscheinungen hat einer riesigen Menge gelernter und ungelernter Arbeiter den Erwerb und somit das Brot genommen. Erschreckend groß sind die Zahlen der Arbeitslosen, und ist es da ein Wunder, wenn Tausende deutscher Männer ihren Heimatort verlassen? Das Bild wandernder Menschen auf der Landstraße ist eine genaue Skala des Wirtschaftslebens und steht im proportionalen Verhältnis zu diesem selbst. Mancher Uneingeweihte ist traditionell gewohnt, dieses wandernde Elend als soziale Plage zu bezeichnen. [...] Bequem ist es den Gedanken nicht weiter zu verfolgen, woher kommen diese Wanderer, wohin gehen sie und was wird wohl aus ihnen? [...]
Da helfen ihm dann die Wanderarbeitsstätten. [...] Hier findet er gegen entsprechende Arbeitsleistung Unterkunft, Verpflegung und auch freie Eisenbahnfahrt bis zur nächsten Wanderarbeitsstätte und braucht vor allen Augen nicht zu betteln. [...] Durch den gelinden Zwang, von Wanderarbeitsstätte zu Wanderarbeitsstätte zu reisen, bis eine Unterbringung in feste Arbeitsverhältnisse möglich ist, soweit der Wanderer über ordnungsmäßige Papiere verfügt, wird die Bevölkerung vor Überschwemmung mit Bettlern bewahrt. [...]
Einige Zahlen der Wanderarbeitsstätte Marburg sollen nur ein kleines Bild zeigen.
Vom April 1925 bis 31. März 1926 nahmen 2.393 Wanderer die Wanderarbeitsstätte Marburg in Anspruch. Von diesen Wanderern waren 1.345 gelernte Arbeiter und 1.048 ungelernte Arbeiter. Diesen 2.393 Wanderern wurde für 7.277 volle Tage Verpflegung verabfolgt. Ein Tag kostet im Durchschnitt ungefähr (Heizung, Beleuchtung, Unterkunft mit einbegriffen) Mk. 1,50. Ein großer Teil der Wanderer - d.h. diejenigen, die zur Wanderarbeitsstätte Kassel marschieren - wurde von Kirchhain bis Kassel mit der Bahn transportiert. Auch diese Kosten muß die Wanderarbeitsstätte tragen. [...] Hinzu kommen noch die Kosten, die die Stadt Marburg hat, g[enannt] s[eien] Reinigungs-, Kranken- und Bekleidungskosten. Letztere werden zum größten Teil von der Wanderarbeitsstätte selbst getragen, denn gegen Arbeitsleistung gibt dieselbe Schuhe, Röcke, Hosen, Unterwäsche usw. ab. Doch ist dies unmöglich, wenn die Bevölkerung nicht mithilft, indem Sachen gespendet werden. [...] Die Wanderarbeitsstätte ist ein Prüfstein der Arbeitswilligkeit des Wanderers. Hier sieht man, ob der Wanderer arbeiten will oder nicht. Treu dem Grundsatz: "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, soll, muß und wird gehandelt. [...]
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.