Die Darstellung der Geschehnisse in Mechterstädt aus der Sicht des Historikers Hellmut Seier, Marburg.
Die Erschießung von 15 Arbeitern durch ein Marburger Studentenkorps in Mechterstädt
Immerhin hatte Marburg schon einmal Erfahrungen gesammelt mit dem Versuch, sich gegen Extremismus von links auf die Studentenschaft zu stützen. Diese Erfahrungen luden nicht zur Wiederholung ein. Sie lagen zwei Jahre zurück, aber die Erinnerung daran trennte die Bürgerschaft noch immer in Pro und Contra. Dabei hatten sich die fraglichen Ereignisse gar nicht in Marburg abgespielt, sondern bei Mechterstädt, einem kleinen Ort in Thüringen.
Es hatte damit folgendes auf sich. Im September 1919 war das "Marburger Studentenkorps" gebildet worden, eines jener Freikorps, die auf Wunsch von Reichswehr und SPD-Führung helfen sollte, die Republik zu schützen. Das Marburger Korps unterstand dem XI. Armeekorps in Kassel, umfaßte zwei Bataillone und wurde Ende März 1920 in Thüringen eingesetzt, um "spartakistische Unruhen" bekämpfen zu helfen, in die dort der Widerstand gegen den Kapp-Putsch mündete. Ein Kommando des 1. Bataillons, alles rechtsgerichtete Studenten, erschoß dabei in der Nähe von Mechterstädt fünfzehn unbewaffnete Arbeiter, die zu einem Gefangenentransport gehörten und verdächtigt wurden, Übergriffe begangen zu haben oder Rädelsführer zu sein. Es erschoß sie an einem nebligen Morgen bei einem Fluchtversuch - so jedenfalls stellten es die Schützen später dar, und die Gerichte, vor denen sie sich verantworten mußten, glaubten es ihnen, obgleich mancherlei Umstände gegen sie sprachen. Es gab keine nichtakademischen Augenzeugen. Daß es überhaupt zur strafprozessualen Prüfung kam, war das Verdienst einer Kompanie des 2. Bataillons, der sogenannten "Volkskompanie", die einige Tage später gleichfalls nach Thüringen verlegt wurde und von den Vorfällen erfuhr. Diese Kompanie stand unter der Führung des Marburger Theologieprofessors und Hauptmanns d.R. Heinrich Hermelink. Ihr gehörten, neben Nichtakademikern, in der Mehrzahl linksorientierte Studenten, darunter die angehenden Juristen Gustav Heinemann und Ernst Lemmer, an. Lemmer vor allem drang auf volle Aufklärung, darin neben anderen nicht zuletzt von dem Völkerrechtler Walter Schücking unterstützt, der ihm zu Reichwehrminister Geßler, dem Nachfolger Noskes, den Zugang öffnete. Die Strafverfahren endeten mit Anstoß erregenden Freisprüchen. Die durch Mechterstädt ausgelöste Spannung zwischen dem Studentenkorps und der Volkskompanie aber hielt lange an und hinterließ ein Trauma, das Lehrkörper und Korporationen, Studentenschaft und Bürgerschaft spaltete - eines derjenigen Phänomene, die dem Radikalisierungsprozeß in der Stadt eine unverwechselbare Atmosphäre gaben.
Das Trauma von Mechterstädt erklärt mit, weshalb die Stadtverwaltung wenig Neigung zeigte, sich bei späteren Konflikten auf die Studentenschaft zu stützen. Es trägt aber auch zur Erklärung des spezifischen Marburger Rechtstrends bei. Denn wie immer man sich stellte zu Mechterstädt, wie unübersehbar hier bei Jungakademikern mit elitärem Anspruch zumindest eine Böses verheißende Verbindung von Rechtsradikalität und Brutalität zu Tage getreten war - es stand doch auch fest, daß das Studentenkorps in Kenntnis seiner politischen Verbindung von sozialdemokratisch geleiteten deutschen und preußischen Ministerien gefördert und daß sein Einsatz von der Reichswehr organisiert und geleitet worden war. An der nachträglichen Distanzierung der Berliner Behörden nahmen viele Marburger Anstoß, auch wenn sie die Erschießung nicht billigten. [...] So bewirkte das Trauma bei einem Teil der Einwohnerschaft eher Solidarität als Abkehr.
Indessen ging die Solidarität nicht so weit, daß sie der tragende Pfeiler politischer Kooperation in der entstehenden rechtsradikalen Bewegung hätte werden können. Der Marburger Nationalsozialismus ist ohne konkreten Zusammenhang mit innerstädtischen Nachkriegskonflikten und auch nicht durch Zusammenwirken von Studentenschaft und Kernbevölkerung entstanden.
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