Die beiden Auszüge aus den Berichten des Regierungspräsidenten an "Seine Majestät" über die Situation des Regierungsbezirks Kassel aus dem Jahr 1917 geben ein wenig von der Stimmung wieder, die von anfänglicher Kriegsbegeisterung bis zu latentem Widerstand reichte.
Auszüge aus den Zeitungsberichten des Regierungspräsidenten in Kassel an Seine Majestät in Berlin
Kassel, den 25. Januar 1917
Der Ausbruch des Weltkrieges im Jahr 1914 traf die Bevölkerung des Bezirks mitten in den Sommerferien unvorbereitet. Denn die Sorgen der auswärtigen Politik liegen der großen Menge im ganzen fern und bleiben ihr verborgen, so daß wohl nur die höheren, politisch geschulten Kreise an die Möglichkeit eines Krieges gegen drei Großmächte gedacht hatten. Als aber die Mobilmachung am 1. August befohlen wurde, da ging ein gewaltiges Brausen durch das Volk in allen seinen Schichten, und ein Wille beherrschte alle Kreise, den ungerechten Angriff abzuschlagen, die Feinde zu besiegen und kein Opfer zu scheuen. Vornehmlich zu dieser leidenschaftlichen Aufwallung der Vaterlandsliebe trug die Überzeugung bei, daß unsere Politik stets auf die Erhaltung des Friedens gerichtet gewesen und nicht auf Eroberungen ausgegangen war. Dies gibt dem Volk auch heute noch die Kraft, Übermenschliches zu leisten und alle Opfer auf sich zu nehmen.
Unmittelbar nach Ausbruch des Krieges meldeten sich unendlich viele alte Soldaten zum Heeresdienst, auch solche, die keiner Wehrpflicht mehr unterlagen, insbesondere auch Beamte der Staatsbehörden. Es wurde ihnen dies aufs Bereitwilligste gestattet, unbekümmert darum, daß hierdurch die Leistungsfähigkeit der Behörden, ihre Aufgaben zu erfüllen, stark beeinträchtigt wurde. In großartigem Umfang wurde die Liebestätigkeit und die freiwillige Krankenpflege ins Werk gesetzt und Sammlungen veranstaltet, die erhebliche Beiträge einbrachten. Frauen und Mädchen aus allen Ständen ließen sich als Krankenschwestern ausbilden oder arbeiteten mit Aufopferung in den Liebesgabenstellen und in sonstiger Vereinstätigkeit. [...]
Nach zweiundeinhalbjähriger Dauer des Krieges ist die Bevölkerung jetzt von der leidenschaftlcihen Aufwallung der ersten Kriegsmonate weit entfernt, sie ist ruhig und kühl. Doch ist die Grundstimmung immer noch die, daß das Volk bereit ist, alle Opfer auf sich zu nehmen, von deren Unvermeidlichkeit es überzeugt wird. Gelingt dies nicht, trägt es die Opfer unwillig und sucht sich ihnen zu entziehen. Daß im Volk eine Friedenssehnsucht besteht, ist zweifellos, und deshalb hat Ew. Majestät Friedensangebot vom 12. Dezember in weiten Kreisen einen dankbaren Widerhall gefunden. War aber irgend etwas geeignet, den Willen zum entschlossenen Durchhalten bis zum endgültigen Siege zu festigen, so war es die leichtfertige, anmaßende Ablehnung dieses hochherzigen Angebots durch unsere Feinde.
Kassel, den 27. April 1917
Eine schwere Belastung der Stimmung war die etwa Mitte Januar eintretende Kohlennot, die sich bis Ende Februar steigerte und zum großen Teil auch noch anhält, ohne große Aussicht auf vollständige Beseitigung. Je härter der Winter auftrat, und je länger er dauerte, wurden die Schwierigkeiten immer größer. In den Industriestädten kamen fortgesetzt Gruppen von Personen auf das Rathaus, um sich über Mangel an Feuerung zu beklagen. Viele Einwohner haben ohne Heizung in ihren Wohnungen ausharren müssen. Die geringen Leute konnten auch nicht kochen, so daß sie vorzeitig ihre Brotration verzehrten und dann über Mangel hieran klagten. Die Behörden waren hiergegen fast machtlos, da sie auf die Kohlenzufuhren keinen Einfluß hatten und sich darauf beschränken mußten, für eine möglichst gerechte Verteilung der geringen Bestände zu sorgen. [...]
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