Der spätere Reichskanzler Philipp Scheidemann berichtet in seinen Memoiren von den Anfängen seiner Partei in Marburg.
Auszug aus den Memoiren von Philipp Scheidemann
Da keinerlei sozialdemokratische Organisation in Marburg bestand, gründete ich mit einigen Genossen sofort einen Klub unter dem harmlosen Namen "Gemütlichkeit". Unter diesem Namen, so kalkulierten wir, würde die Polizei Staatsgefährliches nicht vermuten. Von diesem Verein aus besorgten wir alle Parteiarbeit, schrieben und vertrieben Flugblätter und agitierten in unserer Weise auch Sonntags in der Umgebeung. Die Polizei hatte schließlich unserer "Gemütlichleit" gegenüber doch Verdacht geschöpft, so daß sie unsere regelmäßig stattfindenden Versammlungen durch einen Schutzmann überwachen ließ. Dieser Schutzmann, ein Berliner namens Schulze, dessen Kinderzahl, wie ganz Marburg wußte, enorm war, kannte jeden von uns, denn er verkehrte täglich in unserer Stammkneipe bei Konrad Müller am Hirschberg. Natürlich wußte er bald, was bei uns los war, nahm aber eine wohlwollende Neutralität ein und bemerkte nichts. Als wir eines Abends einen Artikel der "Neuen Zeit" besprochen hatten, war er eingeschlafen - übrigens kein Wunder. Als er gegen Mitternacht aufwachte und ein schwindsüchtiger Schneider allerlei über Hegelsche Philosophie sprach, schlug der Schutzmann Schulze mit der Faust auf den Tisch und fragte, ob mit dem Quatsch immer noch nicht Schluß gemacht würde; wenn wir nicht bald zum Gemütlichen übergingen, gehe er weg. Natürlich gingen wir sofort zum gemütlichen Teile über. Schulze blieb und spielte mit dem Hegelschen Philosophen Skat. [...]
In Marburg war ich bis zum Fall des Sozialistengesetzes Vorsitzender des erwähnten politischen Klubs und, bis zu meiner Abreise nach Gießen, auch Bezirksvorsteher des Verbandes der deutschen Buchdrucker und zweiter Vorsitzender der Allgemeinen Ortskrankenkasse. Das war damals etwas! Viel Arbeit bereiteten mir diese Ämter nicht, so daß ich mich mit Eifer meinen Studien hingeben konnte. Ich studierte namentlich Volkswirtschaft und Geschichte. Nebenher schrieb ich für sozialdemokratische Blätter, ständig für das unter meiner Mitwirkung in Kassel neu gegründete "Volksblatt". Auch die "Hessische Landeszeitung" druckte manchen Beitrag von mir. Mein Chef ließ mir jegliche Freiheit, auch im Betrieb, den ich leitete. Er hatte sich überzeugt, daß er mit mir und den Kollegen, die treu zu mir standen, nicht schlecht fuhr. Als es schließlich der Beredsamkeit des damaligen Gießener Gymnasiallehrers Dr. Eduard David, der sich offen zur Sozialdemokratie bekannte, gelungen war, mich zur Übernahme der Redaktion der von ihm gegründeten "Mitteldeutschen Sonntags-Zeitung" breit zu schlagen, und ich meinem Chef mitteilte, daß ich Marburg verlassen wollte, um mich mit Haut und Haaren meiner Partei zur Verfügung zu stellen, da hat er, der Mitglied der Nationalliberalen Partei war, tatsächlich bitterlich geweint.
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