Zu den aufschlußreichsten Quellen über die Situation des Regierungsbezirks Kassel gehören die Berichte des Regierungspräsidenten, die vierteljährlich an "Seine Majestät" zu schicken waren.
Auszüge aus den Zeitungsberichten des Regierungspräsidenten in Kassel
1873, III. Quartal: Kirchliche Anlegenheiten
Am 28. Juli wurde das aus 7 Mitgliedern bestehende, neu gebildete Gesamtkonsistorium für den Regierungsbezirk Kassel durch den Herrn Unterstaatssekretär Sydow eingesetzt. Gegen diese Einsetzung ist von einer Anzahl niederhessischer und einem oberhessischen Geistlichen [...] Protest mit der Bitte um Wiederaufhebung der neuen Behörde erhoben worden. [...] Die Opponenten sind durch ein Mitglied des Konsistoriums über die Grundlosigkeit ihres Auftretens belehrt worden, haben indes nicht alle ihre betreffenden Erklärungen zurückgenommen. Gegen die renitenten Pfarrer wird, soviel bekannt, disziplinarisch eingeschritten. [...]
1874, 1. Quartal: Kirchliche Anlegenheiten
Der beharrliche Ungehorsam einer größeren Anzahl niederhessischer und eines oberhessischen Geistlichen gegen obrigkeitliche Anordnungen ist durch die definitive Entlassung sämtlicher Renitenten aus ihren Ämtern gesühnt, auch sind einige mit den Renitenten in Übereinstimmung befindliche und diese Gesinnung in ihrem dienstlichen Verhalten kundgebende Lehrer entlassen. Aus dem Kreise Marburg wird mitgeteilt, daß der Anhang der Bewohner des Kirchspiels Dreihausen an den daselbst entlassenen Pfarrer Schedtler so mächtig ist, daß, sooft sein Vertreter den Gottesdienst verrichtet, die Kirchen leer stehen, dagegen die sogenannten Betstunden des Schedtler stark besucht werden.
1874, II. Quartal: Kirchliche Anlegenheiten
[...] Der Domkaplan Helferich zu Dipperz und der Kaplan Weber zu Fulda sind wegen gesetzwidrigem Abhaltens des öffentlichen Gottesdienstes bzw. wegen unbefugter Ausübung geistlicher Amtshandlungen gerichtlich bestraft worden.
1875, I. Quartal: Kirchliche Anlegenheiten
Durch Verfügung der Herrn Minister des Innern und der geistlichen Kultus-p.p. - Angelegenheiten ist der Kaplan I. Helferich aus Dipperz wegen fortgesetzter Auflehnung gegen gesetzliche Bestimmungen der preußischen Staatsangehörigkeit verlustig erklärt worden. Diese Verfügung, durch welche zugleich die Ausweisung aus dem Reichsgebiet ausgesprochen ist, hat indes den Helferich, welcher dem Vernehmen nach - des langen Versteckthaltens müde - nach Amerika ausgewandert sein soll, nicht behändigt werden können. Am 18. Januar wurde in Gemäßheit einer Verfügung des Herrn Kultusministers das Bischöfliche Klerikalseminar in Fulda geschlossen, und wurden die Zöglinge angewiesen, dasselbe zu verlassen. [Siehe Dok. 24]
1878, III. Quartal: Öffentliche Stimmung
[...] In denjenigen Kreisen, welche entfernt von größeren Städten liegen und deren Bewohner vorzugsweise Landwirtschaft treiben, haben die verderblichen Lehren und Tendenzen der Sozialdemokratie noch keinen Boden gewonnen [...]. Anders sieht es in den Kreisen aus, in denen Städte liegen, die eine Fabrikbevölkerung in ihren Mauern nähren. [...] Vorzugsweise sind es die Städte Kassel, Hanau und Bockenheim im hiesigen Bezirk, welche den Herd bilden für die Förderung und Ausbreitung der sozialistischen Tendenzen. In jeder dieser Städte, die eine mehr oder minder große Fabrikbevölkerung besitzt, bestehen sozialdemokratische Vereine - politische und gewerbliche -, wohnen sozialdemokratische Agitatoren, die mit Geschick und unter tunlichster Vermeidung aller Handlungen, welche sie mit den Bestimmungen des Strafgesetzbuchs in Konflikt bringen könnten, durch Vorträge in Vereinen und öffentlichen Versammlungen sowie durch Kolportage der sozialdemokratischen Presse das Gift der sozialdemokratischen Lehren nach allen Seiten hin ausbreiten und eifrigst bemüht sind, weitere Anhänger für ihre Lehren zu gewinnen. Im Kreise Hanau sind bereits ganze Dorfschaften durch die fortgesetzten Agitationen unterwühlt und selbst die Bauern diesen Lehren zugeführt, so daß, wenn nicht Halt geboten wird, bei den nächsten Gemeinedewahlen eine größere Anzahl von Sozialdemokraten in die Gemeindebehörden wird gewählt werden. [...]
Mit Erfolg wird der Sozialdemokratie nur durch das dem Reichstage vorgelegte Gesetz entgegengewirkt werden können. Es müssen nicht nur alle Zeitungen und sonstige Preßerzeugnisse, alle Vereine und Verbindungen, welche sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen auf Untergrabung der Staats- und Gesellschaftsordnung gerichteten Bestrebungen dienen, unterdrückt, sondern auch die Wirtschaften beseitigt werden, in denen vorzugsweise die Sozialdemokratie großgezogen wird.
1888, IX.-XI.: Öffentliche Stimmung
[...] Mit der lebhaftesten Agitation, wenn auch diesmal noch ohne Wahlerfolge, trat die antisemitische Partei in die Öffentlichkeit. Diese gewinnt, namentlich in den oberhessischen Kreisen, sichtlich an Boden. Die Art und Weise ihrer Agitation, ihre fortwährenden Wühlereien und Hetzereien sind derartige, daß sie sich hierin von den Sozialdemokraten kaum unterscheiden. Die Hauptagitatoren dieser Partei, Dr. Böckel und Dr. Winkler in Marburg, [...] sind gänzlich mittellos, aber begabte Männer, die es verstehen, die Triebe der unter dem Druck jüdischer Wucherer seufzenden Landbevölkerung zu erregen, hierbei aber nicht nur eine Hetze gegen die Juden ohne Unterschied, sondern zugleich Erbitterung gegen die Behörden und alle diejenigen, welche sich ihnen nicht anschließen, hervorrufen. Es ist zu erwarten, daß die Antisemiten zu der nächsten Reichstagswahl, bei welcher sie mehr Aussicht auf Erfolg haben, ihre Agitation in verschärfter Weise fortsetzen werden [Siehe Dok. 31 u. 32]. Zu Wahlzwecken haben die genannten Führer in neuester Zeit in den Kreisen Marburg und Kirchhain Konsum- und Bauernvereine gegründet. [...]
Der dem Reichstag zugegangene Entwurf, betreffend die Alters- und Invalidenversorgung, hat außer in den Kreisen der grundsätzlchen Opposition den besten Eindruck hervorgerufen, und wenn auch nicht allen Einzelvorschriften beigestimmt wird, so wird doch der Fortbau der sozialen Gesetzgebung auf Grund der Allerhöchsten Botschaft vom 17. November 1881 und die Verbesserung des Loses für die arbeitenden und besitzlosen Klassen mit Freuden begrüßt.
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