Die Kinderarbeit war in der Provinz Hessen-Nassau weit verbreitet. Immer wieder hatte die für Schulen zuständige Behörde über die Nachteile geklagt, die besonders die Gesundheit, die Schulbildung und die Sittlichkeit betrafen. Die vorliegenden Gutachten sind Antworten auf eine Umfrage der Regierung in Hanau und des Bergamts in Richelsdorf, d.h. einer Behörde, die an der Arbeit der Kinder interessiert war.
Kurfürstliche Regierung! Bl. 131
Der Schulvorstand zu Hanau berichtet:
die Verwendung schulpflichtiger Kinder
in hiesigen Fabriken betreffend.
ex officio
Seit einiger Zeit hat die Verwendung schulpflichtiger Kinder in hiesigen Fabriken, zwar außer der Schulzeit, aber doch in einem für den Schulunterricht höchst nachtheiligen Grade zugenommen, indem z. B. in der Bürgerschule II. nicht weniger als 33 Kinder sich befinden, welche, die Schulstunden abgerechnet, den ganzen Tag von Morgens 6 bis Abends 7 resp[ecti]ve 8 Uhr in Fabriken beschäftigt sind. Daß eine solche Anspannung der jugendlichen Kräfte, abgesehen von dem unmittelbaren sittlichen Schaden, auf die körperliche und geistige Entwicklung hemmend und erschlaffend wirken muß, bedarf wohl keiner weiteren Ausführung. Wir erlauben uns daher diese Sache Kurfürstlicher Regierung mit dem Antrage vorzulegen,
hochgeneigtest dahin zu wirken, daß dem Uebel auf dem Wege des Gesetzes abgeholfen werde.
Hanau, am 13. November 1864
Cassian.
[StAM Best. 16 Rep. VI. Kl. 32 Nr. 50. Akten, betreffend die zum Nachtheil der Gesundheit, der Schulbildung und der Sittlichkeit, in Fabriken beschäftigt werdenden Kinder]
An Kurfürstliches Bergamt Richelsdorfer Gebirgs
In Folge geehrten Schreibens Kurfürstlichen Bergamts vom 6.d. M. Nr. 678 B.A.Pr. habe ich mich darüber gutachtlich zu äußern, ob und welchen schädlichen Einfluß die Zerkleinerung der Kobalterze auf die Gesundheit der dabei verwendeten Kinder äußert.
Es ist mir nicht unbekannt, daß der Staub, welcher bei dem Zerkleinern der Kobalterze entsteht, gar nicht selten denjenigen, welche daran noch nicht gewöhnt sind, eine eigenthümliche Entzündung der Lippen, besonders aber der Nase verursacht, seien dies Erwachsene oder Kinder. Eine Schädlichkeit der Einwirkung dieser Beschäftigung auf den menschlichen Organismus läßt sich daher durchaus nicht leugnen. Allein diese Beschwerde geht bald vorüber, durch Gewöhnung schwindet jeder derartige schädliche Einfluß und eine ernste Folge oder gar eine Vergiftungserscheinung wichtigerer Art als die oben angeführte, ist mir nie vorgekommen, ich habe nie davon gehört oder gelesen. Ein anderer Nachtheil, der eine derartige erhaltende Beschäftigung für die Arbeiter herbeiführen könnte, durch gewisse schädliche Körperbewegungen, Körperhaltungen etc. langes Stehen, langes oder krummes Sitzen etc. kommt nicht, dagegen viel Abwechselung in der Körperhaltung vor.
Die Frage ist daher nach meinem Dafürhalten in dem Sinne zu stellen, ob die fragliche Beschäftigung für Kinder relativ schädlicher sei als für Erwachsene. Da mir aber für diese so vorliegende Frage zur Beantwortung weder eigene noch fremde Erfahrungen zu Gebote stehen, so muß ich mich auf folgendes beschränken.
Es ist nicht zu leugnen, daß im Allgemeinen Kinder viel empfänglicher gegen äußere Schädlichkeiten sind als Erwachsene, ob aber auch gegen die Fragliche, das kann nur durch Erfahrung entschieden werden, ist es aber noch nicht. Erwachsene arbeiten beim Scheide, soviel ich weiß, ganze Schichten, die Kinder dagegen nur halbe, weil sie durch die Schule abgehalten werden; Erwachsene gehen langsam und bedächtig zu und von den Scheideorten, Kinder dagegen machen sich, davon habe ich mich vielfach überzeugt, viel reichlichere Bewegungen durch Laufens und andere Spiele in der freien Luft. Angenommen nun also eine wirkliche große Schädlichkeit der fraglichen Beschäftigung für Kinder als für Erwachsene, so wird dieselbe jedenfalls im vorliegenden Fall durch die kurzen Schichten der Kinder durch deren reichlichere Bewegung im Freien und verstärkend durch den dem kindlichen Organismus eigenen viel rascheren Stoffwechsel jedenfalls wenigstens neutralisiert, und soll oder kann diese schädliche Arbeit des Zerkleinerns der Kobalterze demnach nicht auf eine den Menschen ganz unschädliche Art oder durch Maschinen etc. vollbracht werden, so halte ich dafür, daß halbe Schichten durch Kinder vollführt, nicht so schädlich sind als ganze durch Erwachsene, welche also dann nur für halbe Schichten zu engagieren sein möchten.
Um gefällige abschriftliche Mittheilung der wiederbeifolgenden 5 Anlagen darf ich Kurfürstliches Bergamt wohl ergebenst ersuchen.
Nentershausen 17. Februar 1858 | |
| Der Physikus und Bergarzt Dr. Bauer |
Gutachtliche Aeußerung des Unterzeichneten über die Frage Kurfürstlichen Bergamtes vom 11. de. M. zu Nro. 1233 /1838 O. Pr. dahin gehend:
"Ob und wie wird der Besuch der Schule durch
Verwendung schulpflichtiger Kinder bei Aufbereitung
der Kobalterze auf dem hiesigen Werke gestört?"
Wenngleich durch die Verwendung der schulpflichtigen Kinder in dem hiesigen Poch- und Waschwerken der Schulbesuch fast zur Zeit nicht gestört wird, so sind doch die Folgen, welche diese Verwendung mit sich bringt, in Bezug auf das sittliche Leben der Kinder und ihre geistige Ausbildung durchweg als sehr nachtheilig zu bezeichnen. Wenn schon das Zusammenseyn vieler Kinder auf das jugendliche Gemüth einen großen Einfluß, und zwar wie es die Erfahrung lehrt, einen nicht günstigen ausübt, wie z. B. durch böse Beispiele, verderbliche Schwätzereien und Ungezogenheiten, so ist es aber vor allen Dingen das Sichüberlassenseyn der Kinder auf dem Hin- und Herwegen, welches einen verderblichen Einfluß auf die Herzen der Kinder ausübt. Dieser kann nur dann beseitigt werden (denn die Lehrer können nicht immer zugegen seyn), wenn die zu verwendenden Kinder zur bestimmten Zeit sich versammeln und in Begleitung und unter der strengsten Aufsicht eines Aufsehers ihren Weg machen und zwar hin und zurück.
Ferner leidet durch die Verwendung der schulpflichtigen Kinder in den hiesigen Werken deren geistige Ausbildung gar sehr. Oft habe ich schon als Entschuldigungsgrund des Nichtslernens anführen hören; "Ich mußte aufs Pochwerk", daher, soll wirklich das geistige Wohl der Kinder mit dem leiblichen Hand in Hand gehen, so muß insbesondere den Eltern zur strengsten Pflicht gemacht werden, ihre Kinder, nach beendigter Arbeit in den Werken, fleißig anzuhalten, etwas zu lernen, sie nicht anders zu verwenden, wie es täglich geschieht. Dies Gebot an die Eltern könnte mit einer Drohung vom hohen Bergamte geschehn, denn hierbei würde auch die Furcht wirksam seyn.
A. Deyss Schullehrer
Richelsdorf, am 21. August 1858
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