Schulstraße / Otto-Boeckel-Straße
von Lara Weidemüller
Die Schulstraße befindet sich im Marburger Südviertel, welches zusammen mit der genannten Straße in den 1880er Jahren entstand. Sie entstand durch eine Dammaufschüttung im ehemaligen Überschwemmungsgebiet der Lahn. Seit den 1880er Jahren befanden sich dort mehrere Schulen, wie eine jüdische Volks- oder Elementarschule, eine private Vorschule und eine Volksschule, wodurch die Schulstraße 1885/86 zu ihrem Namen kam. 1887 wurde zudem eine Verbindungsstraße zwischen der vermutlich eher bekannten Universitätsstraße und der Schulstraße gebaut.
Umbenennung der Straße in der NS-Zeit
1935 wurde die Schulstraße anlässlich der Einweihung des „Hauses der Kreisleitung der NSDAP“, welches sich in der Straße befand, in „Otto-Boeckel-Straße“ umbenannt. Dies geschah zu Ehren des antisemitischen Vertreters des Wahlkreises Marburg im Reichstag von 1887-1903, Otto Boeckel.
Wer war Otto Boeckel?
Otto Boeckel wurde am 02.07.1859 in Frankfurt am Main geboren. Nach Marburg kam er als Literaturstudent und wurde schließlich nach seiner Promotion zum Hilfsbibliothekar (heute Assessor) ernannt. Während seiner Studienzeit beschäftigte er sich bereits intensiv mit Forschungen über deutsche Volkslieder und gewann so einen tieferen Einblick in die Not der hessischen Landbevölkerung. Von dieser Erfahrung geprägt, beschloss er, sich der Bauern anzunehmen und in die Politik einzutreten. Boeckel war 1886 als Antisemit maßgeblich an der Gründung der „Deutschen Antisemitischen Vereinigung“ in Kassel beteiligt und schrieb zudem Artikel und Gedichte für antisemitische Zeitungen. Außerdem veröffentlichte er, zunächst noch unter dem Pseudonym Dr. Capistrano, Broschüren und später auch ganze Werke.
Am 26.08.1886 wurde Boeckel Vorsitzender des von ihm gegründeten Deutschen Reformvereins in Marburg. Gerade etwas mehr als einen Monat später, am 30.09.1886, erfolgte sein Eintritt in die Öffentlichkeit in Form einer Rede in einem Café. Da die Lokalpresse eine Annoncensperre über Boeckel verhängte, gründete er einen Monat vor den Reichstagswahlen die völkische Zeitschrift „Reichsherold“. Boeckel, der bei der Reichstagswahl 1887 erstmals kandidierte, stand zum einen für bessere Löhne, die Arbeiter sowie für die Unterstützung für Bauern im Kampf gegen Wucher ein, zum anderen umfassten seine Wahlprogramme unter anderem die Aufhebung der bürgerlichen Gleichstellung von Juden. Seine Vorbereitung auf die Wahlen umfasste Versammlungen, Flugblätter und systematische Mundpropaganda.
Der Einzug in den Reichstag gelang Boeckel als erster antisemitischer Abgeordneter am 21.02.1887 mit nur 27 Jahren. Als „hessischer Bauernkönig“ setzte er sich vor allem für Bauern ein, somit begann mit Boeckel der bäuerliche Antisemitismus. Sein Eintritt in den Reichstag sorgte zudem für einen erneuten Aufschwung der antisemitischen Bewegung im ganzen Reich und mit den Jahren zogen immer mehr antisemitische Abgeordnete in den Reichstag ein.
Boeckel gewann weitere Reichstagswahlen und gründete 1890 sogar die Antisemitische Volkspartei, die sich 1893 in Deutsche Reformpartei umbenannte, allerdings fehlte ihm die eigentliche politische Sachkenntnis, weshalb er völlig versagte. Die antisemitische Fraktion war sich so uneinig, dass sie bei jeder Abstimmung zerfiel. Hinzu kam, dass Boeckel um seine wirtschaftliche Existenz ringen musste, weshalb er 1903 auf eine erneute Kandidatur verzichtete. Von 1897-99 arbeitete er zudem im statistischen Büro der Landwirte und wirkte dort am Agrarischen Handbuch des Bundes der Landwirte mit. Ein erneuter Versuch, in den Reichstag einzutreten, scheiterte 1912, denn er kam nicht einmal in die Stichwahl.
Otto Boeckel starb am 17.09.1923 einsam und gelähmt in Michendorf.
Wie kam es schließlich zur Umbenennung der Schulstraße in „Otto-Boeckel-Straße“?
Zunächst lässt sich sagen, dass Boeckel nach seinem Tod von den Nationalsozialisten zu einem Wegbereiter ihres Gedankenguts stilisiert wurde, denn er wurde als radikaler Vorkämpfer angesehen. Zudem muss beachtet werden, dass Antisemitismus, sprich Abneigung gegenüber Juden, in ideologischen Merkmalen des Nationalsozialismus eine große Rolle spielt und sogar oftmals als Wegbereiter zum Holocaust angesehen wird, da sich eine gewisse zerstörerische Tendenz mit dem Antisemitismus im 19. Jahrhundert bereits ankündigte. Die Ansichten und das Verhalten gegenüber Juden sind somit im Nationalsozialismus in vorgefasste Denkmuster gepresst worden. Auch wenn Antisemitismus in Geschichte wie Gegenwart immer präsent ist, sieht der Historiker Yaakov Talmon den NS-Antisemitismus als Höhepunkt einer langen Entwicklung, nämlich der Entwicklung einer rassistischen Ideologie, die die Wünsche und Gedanken der Antisemiten systematisierte. Zusammenfassend charakterisiert Talmon den Antisemitismus als eine „centuries-old neurosis culminating in a demonic and murderous madness“, „jahrzehntelange in dämonischer und mörderischer Geisteskrankheit gipfelnde Neurose“.
Obwohl Boeckels Kandidatur im Reichstag auf Dauer letztlich scheiterte, ist seine Hinterlassenschaft als erster Antisemit im Reichstag nicht außer Acht zu lassen. Besonders bedeutend war dabei die von ihm gegründete Antisemitische Volkspartei, welche sich 1914 mit der von dem ehemaligen Offizier Max Liebermann von Sonnenberg gegründeten Deutschsozialen Partei zur Deutschvölkischen Partei zusammenschloss. Zudem spielten andere Verbände und Vereine, wie dem politisch einflussreichen Bund der Landwirte, in welchem Boeckel tätig war, eine entscheidende Rolle, da diese sich eindeutig und nachdrücklich zum Antisemitismus bekannten. Außerdem waren führende hessische Nationalsozialisten, wie der spätere Staatspräsident Ferdinand Werner, in ihrer Jugend in der Boeckel-Bewegung tätig.
Boeckel könnte im übertragenen Sinne somit als eine Art Vorreiter nationalsozialistischer Ideen gesehen werden. Ihm zu Ehren wurde, wie bereits erwähnt, die Schulstraße in Marburg, wo er selbst bedeutende Jahre seines Lebens gelebt und gewirkt hat, 1935 in „Otto-Boeckel-Straße“ umbenannt.
Umbenennung der „Otto-Boeckel-Straße“ zurück in Schulstraße
Die Umbenennung der „Otto-Boeckel-Straße“ zurück in „Schulstraße“ erfolgte am 30.04.1945 mit dem Einmarsch der Amerikaner in Marburg auf Befehl des Oberbürgermeisters Eugen Siebecke. Siebecke war durch die amerikanische Militärregierung in Marburg nur wenige Tage nach ihrem Einmarsch zum kommissarischen Oberbürgermeister ernannt worden. Unter die von ihm unter den Anordnungen der Amerikaner zu leistenden Arbeiten fiel unter anderem die Entnazifizierung, was möglicherweise als Hintergrund für die erneute Umbenennung der Straße gedient haben könnte.
Der Name „Schulstraße“ aus den 1880er Jahren ist somit bis heute erhalten und hat aufgrund der sich in der Straße befindenden Otto-Ubbelohde-Schule Marburg, welche 1986 gegründet wurde, heute immer noch seine Berechtigung.
Anhang
Textquellen:
„Schulstraße“:
https://archivschule.asprit.de/DE/forschung/kursprojekte/marburger-strassennamen/schulstrasse.html (15.05.2022, 17:01 Uhr)
„Otto Boeckel“:
https://archivschule.asprit.de/DE/forschung/kursprojekte/marburger-strassennamen/otto-boeckel.html (16.05.2022, 19:26 Uhr)
„Otto Boeckel“:
https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_B%C3%B6ckel#cite_note-5 (16.05.2022, 20:26)
„Die Geburt des Rechtsextremismus“:
https://www.sueddeutsche.de/kultur/die-ideologische-heimat-adolf-hitlers-die-geburt-des-rechtsextremismus-1.183316 (17.05.2022, 19:23 Uhr)
„Antisemitismus“:
https://www.dhm.de/lemo/kapitel/kaiserreich/antisemitismus.html (17.05.2022, 19:34 Uhr)
„VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE – ‚KONTINUITÄT UND DISKONTINUITÄT IM DEUTSCHEN ANTISEMITISMUS 1878-1945‘“ (Shulamit Volkov):
https://www.ifz-muenchen.de/heftarchiv/1985_2_1_volkov.pdf (17.05.2022, 21:27 Uhr)
„Marburger Oberbürgermeister – Teil 10: Eugen Siebecke (1945-1946)“:
https://www.myheimat.de/marburg/politik/marburger-oberbuergermeister-teil-10-eugen-siebecke-1945-1946-d2766713.html (18.05.2022, 18:54 Uhr)
„Otto-Ubbelohde-Schule Marburg“:
https://otto-ubbelohde.marburg.schule.hessen.de (18.05.2022, 20:15 Uhr)
Bildquellen:
„Otto Boeckel um 1880“:
https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_B%C3%B6ckel#/media/Datei:B%C3%B6ckelOtto1880.jpg (18.05.2022, 19:58 Uhr)
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