Radestraße (Sedanstraße)
- Radestraße
Die Radestraße liegt im Südviertel von Marburg in der Nähe von drei Schulen. Die Radestraße ist eine Anliegerstraße. In der Nähe gibt es eine Salatbar, Eisdiele und eine Bushaltestelle. Früher hieß sie Sedanstraße und wurde nach dem 2. Weltkrieg in Radestraße umbenannt.
- Prof. Dr. Paul Martin Rade
Biografie:
Prof. Dr. Paul Martin Rade (1857-1940) war ein linksliberaler Abgeordneter bei vielen Parteien, ein evangelischer Theologe, Professor der Universität Marburg im Fachbereich Theologie und Pfarrer der Frankfurter Paulskirche.
Prof. Dr. Paul Martin Rade ist in Rennersdorf bei Herrnhut[1] am 4.4.1857 geboren worden. Sein Vater Moritz Leberecht Rade (1815-1892) war in dieser Ortschaft Pfarrer und seine Mutter hieß Karoline Thekla Glöckner (1824-1898). Seine Ehepartnerin war Dora Naumann (1868-1945) und mit ihr zog er zwei Kinder (eine Tochter und einen Sohn) groß. Er kommt aus einer evangelischen-protestantischen christlichen Familie.
Er besuchte eine Volksschule in Berthelsdorf bei Herrnhut und schließlich besuchte er das Gymnasium Zittau von 1869-1875. In der Leipziger Universität absolvierte er sein Studium im Fachbereich Theologie nach seinem Abitur von 1875-1878, woraufhin er am Ende seines 6. Semesters sein Erstes Staatsexamen für Theologie ablegte. Während der Zeit, als er die Hauslehre bei Prof. Czermak in Leipzig 1879-1881 absolvierte, legte er zusätzlich 1880 sein Zweites Theologisches Staatsexamen ab. Nach seiner Hauslehre wurde er im April 1880 zum Lizentiat[2] der Theologie in Leipzig promoviert. Daraufhin erfüllte ein Jahr seine Militärpflicht in Berlin. Nach seinem Militärdienst 1882 arbeitete er als Pfarrer in Schönbach bei Löbau[3] und war der Gründer der Zeitschrift „Die christliche Welt“. 10 Jahre später wurde er Pfarrer in der Paulskirche in Frankfurt am Main und im selben Jahr wurde er zum Doktor der Theologie an der Universität in Gießen promoviert. Im Jahr 1899 schied er aus dem Pfarramt der Paulskirche aus. Dafür legte er am 14.12.1899 eine Habilitation[4] für Theologie an der Universität Marburg ab. In Marburg wurde er am 3.12.1904 zum außerordentlichen Professor ernannt. Zeitgleich begann er mehr politisch zu wirken und er trat der Partei „Freisinnige Vereinigung“ bei. Im Jahr 1910 verließ er diese Partei wieder und wechselte zu einer anderen Partei, der „Fortschrittlichen Partei“. Ab 1918 war er Mitglied der „Deutschen Demokratische Partei“ und saß nach einem Jahr schon als Abgeordneter in der preußischen Nationalversammlung (1919-1921). Am 16.8.1921 wurde er zum ordentlichen Professor der Universität Marburg ernannt. Im Jahre 1922/23 wurde er zum Dekan der theologischen Fakultät und schließlich am 1.10.1924 emeritiert (in Ruhestand versetzt). Später zog er nach Frankfurt um. Paul Martin Rade diskutiert mit seinen ehemaligen Marburger Kollegen über die Stellung der Kirche im Nationalsozialismus bei einer Versammlung in Hohenmark im Jahr 1934, als zu diesem Zeitpunkt der Nationalsozialismus in Marburg herrschte. Er starb in Frankfurt am 9.4.1940.
Werke, Taten, Normen und historische Ereignisse:
Prof. Dr. Paul Martin Rade erlebte viele wichtige Ereignisse der deutschen Geschichte in seinem Leben. Von der Reichsgründung 1871, der Industriellen Revolution und dem Imperialismus bis hin zum Beginn des 2. Weltkrieges. Wichtige Bewegungen und Ereignisse, an denen er aktiv beteiligt war, waren der Kulturprotestantismus gegen die Aufklärung und der Idealismus, der Apostolikumsstreit, die Weimarer Republik und der Nationalsozialismus, gegen den er eintrat.
Eines seiner bekannteste Zitate „Herrlichkeit kann nicht anders als leuchten, und Macht kann nicht anders als wirken.“ [5] soll den Unterschied von Kirche und Staat klarstellen und wendet sich gegen die Kritik der Kirche. Da die Kirche durch Philosophen wie Immanuel Kant und Karl Marx scharf kritisiert worden war und die Bibel und der kirchliche Glaube infolge der Aufklärung hinterfragt wurden, kam es zu einem „anhaltenden Entchristlichungs- und Entkirchlichungsprozeß“[6] in der Bevölkerung, die Paul Martin Rade erkannte. In seinem Zitat wird die Herrlichkeit der Kirche betont, die der Bevölkerung neue Hoffnung „leuchten“ soll; so wollte Rade auf die wichtigen Aufgaben der Kirche „wie Hoffnung und Gemeinschaft geben“ hinweisen. Aus diesem Grunde veröffentlichte er die Wochenzeitschrift „Die Christliche Welt“ mit einigen anderen Theologen, um den Kulturprotestantismus[7] zu unterstützen. Dadurch wurde diese Zeitschrift auch zu dessen, das die aktuellen Ereignisse politisch, theologisch und kulturell erörterte.
Beim Apostolikumsstreit handelte es sich um einen Streit innerhalb der evangelischen Kirche, welcher sich mit dem apostolischen Glaubensbekenntnis beschäftigt. In diesem Streit gab es zwei Gruppen. Die eine Gruppe ist strikt für das apostolischen Glaubensbekenntnis und die andere Gruppe steht für eine liberalere evangelische Gemeinde mit dem Verzicht auf dogmatische[8] Traditionen. Paul Martin Rade setzte sich für die liberale evangelische Bewegung ein und er beschäftigte sich viel mehr mit dem historischen Glaubensbekenntnis zu ihren Anfängen.
Die liberale Ansicht von Rade lässt sich auch an der liberalen Parteimitgliedschaften sehr gut erkennen und letztlich auch zum Abgeordneten der Nationalversammlung für die „Deutsche Demokratische Partei“ wurde (nach dem ersten Weltkrieg). Er war politisch klar als Linksliberaler einzuordnen.
Paul Martin Rade hielt nach der „Machtergreifung[9]“ der NS über die Stellung der Kirche zum Nationalsozialismus. Als linker Liberaler war er von Hause aus gegen die faschistischen, rassistischen Ideen der NS.
Sedan
Sedan ist eine kleine französische Stadt aus Nordfrankreich im Gebiet Grand Est. Sie liegt nahe belgischen und der luxemburgischen Grenze. Sedan ist sehr bekannt für zwei wichtige, brutale Schlachten, welche 1870 (deutsch-französischer Krieg 1870/71) und 1940 (2. Weltkrieg) zwischen Frankreich und Deutschland stattfanden.
Vor den deutsch-französischen Krieg gab es noch den deutsch-dänischen und deutsch-deutschen Krieg (Preußen gegen Österreich), welche alle drei Kriege werden zu „Reichseinigungskriegen“ zusammengefasst. Die Reichsgründung fand im Versailles statt, was für Frankreich ein sehr wichtiges historisches Gebäude und Symbol für den damaligen Absolutismus unter Ludwig XIV, Ludwig XV und Ludwig XVI im Staat ist. Die Schlacht von Sedan[10] dauerte auch nur zwei Tage, weil die französischen Truppen im Vergleich zu den deutschen Truppen kaum für den Krieg vorbereitet waren.
Der deutsch-französische Krieg wurde ausgelöst durch die Emser Depesche, worauf Frankreich durch die Demütigung und Druck an Preußen den Krieg erklärte. Noch während des Krieges gegen Frankreich entstand das Deutsche Reich mit Kaiser Wilhelm auf dem Thron. Aus diesem Grund von 1871 bis 1919 wurde in Deutschland am 2. September 1870, den Tag, an dem die Deutschen die Schlacht um Sedan gewonnen haben, der sogenannte Sedantag gefeiert, der an den erfolgreichen Sieg gegen den „Erbfeind“ Frankreich und die Gründung des Deutschen Reiches erinnern sollte. Auch einige Straßen, wie in Marburg früher die heutige Radestraße, wurden nach diesen Reichsgründungssymbol benannt (Sedanstraße). Dieser wurde durch Otto von Bismarck eingeleitet und auch beendet. Man nennt diese Reichsgründung „von oben“, weil hauptsächlich die Fürsten, Könige und besonders Otto von Bismarck und weitere Souveräne beteiligt waren.
Warum wurde der Sedantag am 27.08.1919 abgeschafft?
Dieser nationale Feiertag wurde abgeschafft, weil der Sedantag in der Weimarer Republik als nicht wahr empfunden wurde. Allein die Reichsgründung in Versailles 1871 war für Frankreich eine sehr große Blamage und dieser Feiertag würde an diese Erbfeindschaft erinnern. Zuvor gab es einige regionalen als auch politische Widerstände. Der katholische Anteil protestierte gegen diesen Tag aufgrund von Bismarck angeführten „Kulturkampf[11]“ und die Sozialdemokraten demonstrierten lange gegen den Sedantag, weil dieser Tag die diplomatischen Beziehungen zu Frankreich nicht weiterhelfen würde.
Trotz der Abschaffung des Sedantages gab es einige verschiedene Gruppe, die den 50. Jahrestag (1920) des. Sedantages gefeiert haben. Ein prominentes Beispiel war eine Sedanfeier 1921 in einem Realgymnasium in Chemnitz gewesen, welche von einige Arbeiter und Gymnasiasten gefeiert wurde, aber auch schnell wieder aufgelöst wurde.
Die Straßennamenänderung + deutschlandweite Diskussion
Die letzte öffentliche geführte Diskussion über eine „Sedanstraße“ fand in Norddeutschland Anfang 2021 statt. Städte wie Kiel, besonders Hamburg und weitere Städte kamen dabei in den öffentlichen Fokus. Noch heute findet man vielerorts Straßen, die „Sedanstraße“ oder „Sedanplatz“ als Namen tragen.
Im Vergleich zu anderen Städten änderte die Stadt Marburg schon nach dem 2. Weltkrieg die Sedanstraße zu Radestraße um.
Es gab in der jüngsten Vergangenheit öfters Diskussionen über eine Namensänderung der Sedanstraße, weil dieser Name auf historische, nicht-positive Momente der deutschen Geschichte zurückblicken lässt, welches zur heutigen Zeit mit der heutigen Beziehung zu Frankreich eindeutig nicht zeitgemäß ist. Frankreich könnte diesen Straßennamen beleidigend finden, weil damals die Reichsgründung in Versailles stattfand, wodurch der Stolz aus der Sicht der Franzosen gelitten hat. Dieser Straßenname weist zudem auf die „Erbfeindschaft“ hin. Angesicht der dt.-frz. Freundschaft scheint diese Reminiszenz erinnerungspolitsch nicht mehr angemessen.
Insgesamt sind auch im deutsch-französischen Krieg circa 200.000 Soldaten verletzt oder getötet worden, was das „Eisen und Blut“[12] -Zitat von Bismarck zur Reichsgründung untermauert bzw. realisiert. Ein Gegenargument sind die noch entstehenden Kosten wie der Bau von neuen Schildern und weitere Kosten und die viele Mühen für die Änderung der Straßennamen wie die Wahl nach einem Namen für die Straße. Ein weiterer Gegenargument ist die Behauptung von einigen Gegner, dass man unbedingt an die Schlacht erinnern müsse, um diesen Angriff nicht zu vergessen, zu trauern und als Lehre zu nehmen, dass solche Kriege (deutsch-französischer Krieg und beide Weltkriege) niemals wieder entstehen dürften.
Man nannte diese Straße nach dem 2. Weltkrieg zu Radestraße um Rades Wirken, seiner Arbeit in der Politik, Theologie und Kirche, ehrend zu gedenken.
- Quellenverzeichnis
https://linksabbieger.net/2021/01/08/sedanstrasse-umbenennen/ (am 11.04.2022 um 16:21)
https://professorenkatalog.online.uni-marburg.de/de/pkat/idrec?id=7664 (am 11.04.2022 um 16:26)
https://www.lagis-hessen.de/pnd/118597612 (am 11.04.2022 um 16:31)
https://www.deutsche-biographie.de/sfz104127.html#ndbcontent (am 12.04.2022 um 8:55)
https://gutezitate.com/zitat/242924 (am 12.04.2022 um 10:14)
https://www.britannica.com/topic/Christianity/Church-and-society (am 12.04.2022 um 15:09)
https://frankfurter-personenlexikon.de/node/815 (am 12.04.2022 um 15:20)
https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/xsrec/current/1/sn/edb?q=YToxOntzOjY6InBlcnNvbiI7czo5OiIxMTg1OTc2MTIiO30= (am 13.04.2022 um 10:34)
https://wort-und-fleisch.de/kulturprotestantismus/ (am 16.04.2022 um 10:23)
https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/043205/2011-01-27/ (am 16.04.2022 um 10:28)
https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/die-rolle-der-kirchen-in-der-ns-zeit (am 16.04.2022 um 17:12)
https://www.lernhelfer.de/schuelerlexikon/geschichte/artikel/schlacht-bei-sedan (am 19.04.2022 um 15:23)
https://www.kiel.de/de/bildung_wissenschaft/stadtarchiv/erinnerungstage.php?id=17 (am 19.04.2022 um 15:28)
https://www.geschichte-abitur.de/deutsches-kaiserreich/reichsgrundung (am 19.04.2022 um 15:31)
https://deutsche-schutzgebiete.de/wordpress/sedantag/ (am 19.04.2022 um 15:35)
https://www.allgaeuer-zeitung.de/allgaeu/weiler/debatte-in-lindenberg-soll-die-sedanstrasse-umbenannt-werden_arid-295882 (am 20.04.2022 um 9:04)
Bildnachweis
[1] https://www.herrnhut.de/ueber-herrnhut/ortsteile/rennersdorf
Bild: „Radestraße“ stammt aus Google Maps am 12.04.2022 um 15:58
Bild: „Prof. Dr. Paul Martin Rade“ stammt aus Philipps-Universität-Marburg (am 13.04.2022 um 10:41)
[2] Erlaubnis zum Lehren, aufgrund im Besitz eines akademischen doktorwürdigen Grades
[3] Eine Ortschaft in Sachsen, nahe tschechischer Grenze und ca. 58km Entfernung zu Dresden
[4] Erwerbung für Lehrberechtigung in Hochschulen anhand einer Prüfung zum Professor
Bild: Zeitschrift „Die christliche Welt“
[5] Zitat (am 16.04.2022 um 11:03 Uhr): https://gutezitate.com/zitat/242924
[6] Zitat (am 12.04.2022 um 8:55): https://www.deutsche-biographie.de/sfz104127.html#ndbcontent
[7] Bewegung gegen die anhaltenden Entchristlichungs- und Entkirchlichungsprozeß im 19. Jh.
Karikatur über das Apostolikumsstreit: Zeigt den Konflikt zwischen Liberalismus und Orthodoxie
[8] Kirchliche Sprachgebrauch: verbindliche, normative Glaubensaussage
Karikatur über die Stellung der Kirche: Die Kirche muss sich dem Staat anpassen, um bestehen zu bleiben.
Bild: Zeigt die Kampfstellung beider Kriegsparteien im deutsch-französischen Krieg 1870 in
Sedan
[9] 30.Januar 1933: Ende der Weimarer Zeit und Anfang der NS-Herrschaft durch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler
[10] Link zu Schlacht von Sedan: https://www.youtube.com/watch?v=JNh-PtOC3GA (20.04.2022 um 9:44)
Kurze Fassung: https://www.youtube.com/watch?v=sqlLFvB8oTo (20.04.2022 um 9:46)
[11] Kulturkampf: Bismarck gegen den Einfluss der kath. Kirch im Kaiserreich. Strikte Trennung von Staat und Kirch
[12] Reichsgründung nur durch einen gemeinsamen blutigen Krieg möglich. Dadurch soll Frankreich als ein gemeinsamer Feind stehen.
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