Augustinus zur Schwierigkeit der Frage nach dem Zusammenwirken von Freiheit und Gnade
"Indes ist die Frage, in der die Freiheit des Willens und die Gnade Gottes erörtert wird, so schwierig zu entscheiden, dass dann, wenn der freie Wille verteidigt wird, die Gnade Gottes geleugnet zu werden scheint, wenn aber die Gnade Gottes behauptet wird, man glauben kann, der freie Wille sei aufgehoben."
Augustinus, Die Gnade Christi und die Erbsünde, in: Augustinus, Schriften gegen die Pelagianer, Bd. II, Würzburg 1964, S. 387
Augustinus, De gratia et libero arbitrio. Gnade und freier Wille, 426/27
Anlass und Gegenstand dieses Buches
1, 1. Vieles haben wir schon, soweit es uns der Herr in seiner Herablassung verliehen hat, erörtert und schriftlich niedergelegt mit Rücksicht auf jene, die den freien Willen des Menschen so preisen und verteidigen, daß sie die Gnade Gottes zu leugnen wagen und zu beseitigen versuchen, durch die wir zu ihm berufen, sowie von unseren Sünden erlöst werden und auf Grund deren wir die guten Werke bereiten, durch die wir zum ewigen Leben gelangen. Aber da es nun einmal manche Leute gibt, welche die Gnade Gottes in der Weise verteidigen, daß sie den freien Willen des Menschen ablehnen, oder, wenn man die Gnade verteidigt, glauben, der freie Wille werde geleugnet, deshalb ließ ich es mir angelegen sein, an Eure Liebe, Bruder Valentinus, und du übrige Gott dienende Gemeinschaft, um unserer gegenseitigen Liebe willen, die mich antrieb, etwas zu schreiben. Denn von einigen Mitgliedern eurer Genossenschaft, die von dort zu uns gekommen sind und durch deren Vermittlung wir auch die vorliegende Schrift euch zuschicken, wurde mir über euch, Brüder, gemeldet, in dieser Angelegenheit herrschten Streitigkeiten unter euch. Damit euch, Geliebteste, die Dunkelheit dieser Frage nicht verwirre, ermahne ich euch daher zuerst, Gott Dank zu sagen für das, was ihr begreift; was immer aber es sei, wohin ihr bei angestrengtem Nachdenken nicht vordringen könnt, bewahrt dabei Frieden und Liebe untereinander und bittet den Herrn um Einsicht. Und bis er euch selbst zur Erkenntnis dessen führt, was ihr bis jetzt noch nicht begreift, wandelt dort, wohin ihr gelangen konntet. Dazu ermahnt der Apostel Paulus, der kurz nach den Worten, er sei noch nicht vollkommen, sagte: „Wer nun zu den Vollkommenen gehört, der soll so denken” (Phil 3,15), d. h. wir seien in dem Sinn vollkommen, daß wir noch nicht zu der uns genügenden Vollkommenheit gekommen seien, und unverzüglich hinzufügte: „Und wenn ihr noch in einer Sache anders denkt, so wird Gott euch auch das offenbaren. Gleichwohl lasst uns in dem wandeln, was wir erreicht haben” (Phil 3, 16); denn durch den Wandel in dem, was wir erreicht haben, werden wir auch an das noch nicht erreichte Ziel gelangen können, da Gott uns, wenn wir über etwas anders denken, dies offenbart, wenn wir nur seine schon geoffenbarten Wahrheiten nicht verlassen.
Die Heilige Schrift bezeugt klar: Der Mensch hat einen freien Willen
II, 2. Durch seine heiligen Schriften aber hat er uns geoffenbart, daß der Mensch einen freien Willen besitze. Wie er seine Offenbarungen gab, daran erinnere ich euch nicht mit Menschen-, sondern mit Gotteswort. In erster Linie, weil die göttlichen Gebote an sich dem Menschen nichts nützten, wenn er keine freie Willensentscheidung hätte, um dadurch die Vorschriften zu erfüllen und so zu den verheißenen Belohnungen zu gelangen. Sie sind ja deshalb gegeben worden, daß der Mensch keine Entschuldigung für seine Unwissenheit habe, wie es der Herr von den Juden im Evangelium sagt: „Wäre ich nicht gekommen und hätte zu ihnen gesprochen, so hätten sie keine Sünde. Jetzt aber haben sie keine Ausrede für ihre Sünde” (Joh 15, 22). Von welcher Sünde spricht er da sonst, als von jener großen, die sie, wie er bei diesen seinen Worten voraus wusste, sich zuschulden kommen lassen würden, d.h. durch die sie ihn zu töten beschlossen hatten? Es war nämlich nicht so, daß sie keine Sünde gehabt hätten, ehe Christus im Fleische zu ihnen gekommen war. Ebenso sagt der Apostel: „Vom Himmel her wird Gottes Zorn offenbar über jede Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit von Menschen, welche die Wahrheit in Ungerechtigkeit niederhalten. Denn was man von Gott erkennen kann, das ist unter ihnen bekannt; hat es doch Gott ihnen bekannt gemacht. Denn was unsichtbar an ihm ist, seine ewige Macht und Göttlichkeit, wird seit Schöpfung der Welt an seinen Werken deutlich erschaut, so daß sie unentschuldbar sind« (Röm z, 18-2o). Wieso nennt er sie unentschuldbar, wenn nicht in betreff jener Ausrede, die den menschlichen Hochmut gewöhnlich sagen lässt: „Wenn ich es gewusst hätte, dann hätte ich es getan; deshalb habe ich es nicht getan, weil ich es nicht wusste” ? Oder: „Wenn ich es wüsste, täte ich es, deshalb tue ich es nicht, weil ich es nicht weiß.” Diese Entschuldigung wird ihnen jedoch genommen in dem Augenblick, wo ein Gebot erlassen, bzw. das Wissen, daß man nicht sündigen darf, geoffenbart wird.
Niemand kann Gott Schuld an seiner Sünde geben
3. Aber es gibt Leute, die sich sogar mit Gott zu entschuldigen versuchen. Diesen sagt jedoch der Apostel Jakobus: „Niemand, der versucht wird, sage, ich werde von Gott versucht, denn Gott kann vom Bösen nicht versucht werden, und er selbst versucht niemanden. Jeder, der versucht wird, wird von seiner Begierde angezogen und geködert. Wenn dann die Begierde empfangen hat, gebiert sie Sünde, die vollbrachte Sünde aber gebiert Tod” (Jak i, 13-15). Auf gleiche Weise antwortet jenen, die sich auf Gott selbst hinausreden wollen, das Buch der Sprüche Salomons : „Die eigene Torheit zerstört des Menschen Ziele und doch grollt sein Herz wider den Herrn” (19, 3). Und das Buch Ekklesiastikus spricht: „Sage nicht: ich bin durch Gott zum Abfall gekommen; denn was er hasst, sollst du nicht tun. Sage nicht: Er hat mich zu Fall gebracht; denn er hat den Sünder nicht vonnöten. Der Herr hasst jede Greueltat, und die ihn fürchten, lieben sie auch nicht. Er schuf im Anfang den Menschen und überließ ihn der eigenen Entscheidung. Wenn du willst, kannst du die Gebote halten; und Treue üben, hängt von deinem Wohlgefallen ab. Er hat dir vorgelegt Feuer und Wasser. Streck deine Hand aus, wonach du willst. Vor dem Menschen liegen Leben und Tod. Was er will, wird ihm gegeben” (15, 11-18). Seht, da finden wir die freie Entscheidung des menschlichen Willens sonnenklar ausgedrückt.
4. Wie verhält es sich mit jener Tatsache, daß Gott an so vielen Stellen befiehlt, alle seine Gebote zu halten und auszuführen; wie kann er Befehle geben, wenn es keinen freien Willen gibt? Ferner frage ich, zeigt jener Glückselige, von dem der Psalm sagt, er habe am Gesetz des Herrn seine Lust (Ps 1, 2), nicht hinreichend, daß der Mensch aus eigener freier Entschließung im Gesetz Gottes verharrt? Dann die so zahlreichen Gebote, die gewissermaßen den Willen namentlich ansprechen, wie z. B.: „Lass dich nicht vom Bösen besiegen” (Röm 12, 21), und anderes derart, wie: „Sei doch nicht wie ein Ross, wie ein Maultier ohne Verstand” (Ps 31, 9), „Achte nicht gering deiner Mutter Weisung” (Spr 1, 8), „Halte dich nicht selber für weise” (Spr 3, 7), „Verlaß nicht die Zucht des Herrn” (Spr 3,11), "Vernachlässige nicht das Gesetz" (Spr 3,21), „Dem Dürftigen weigere keine Wohltat” (Spr 3, 27 nach der Sept.), „Ersinne nichts Böses wider deinen Nächsten” (Spr 3, 29), „Merke nicht auf die Arglist des Weibes” (Spr 5, 2), „Er will nicht weise werden, um gut zu handeln” (Ps 35, 4), „Nach der Zucht des Herrn haben sie nichts gefragt” (Spr 1, 29), und unzählige solcher Äußerungen in den alten Büchern des Gotteswortes, was sind sie anderes, als ein Beweis für die freie Willensentscheidung des Menschen? Tritt denn ferner in den neuen Evangelien und Apostelschriften etwas anderes zutage, wo es heißt: „Häuft euch keine Schätze an auf Erden” (Mt 6, 19), „Ihr sollt auch vor denen keine Furcht haben, die nur den Leib töten” (Mt to, 28), „Wenn einer mir nachfolgen will, so verleugne er sich selbst” (Mt 16, 24), „Auf Erden Friede den Menschen guten Willens” (Luk 2, 14) und was Paulus sagt: „Dann soll er tun, was er will. Er sündigt nicht; sie soll heiraten. Wer aber in seinem Herz fest dasteht, keine Not leidet, vielmehr die Herrschaft über seinen Willen besitzt und das in seinem Herzen beschlossen hat, seine Jungfrau zu bewahren, der handelt gut” (1 Kor 7, 36 f). Desgleichen:
„Denn wenn ich das freiwillig tue, dann habe ich Lohn” (1 Kor 9, 17). Und an anderer Stelle: „Werdet in rechter Weise nüchtern und sündigt nicht” (i Kor 15, 34). Und wiederum: „Damit der Bereitwilligkeit des Willens nun auch die Vollendung entspreche” (2 Kor 8, II). Und zu Timotheus sagt er: „Denn wenn sie Christus zuwider üppig werden, wollen sie heiraten” (i Tim 5, II) und andernorts: „Und alle, die fromm in Christus Jesus leben wollen, werden Verfolgung erdulden” (2 Tim 3, 12) und an ihn selbst: „Vernachlässige deine Gnadengaben nicht” (z Tim 4, 14); an Philemon: „Damit das Gute, das du tust, nicht gezwungen, sondern freiwillig geschehe” (Phile 14). Sogar die Sklaven selbst mahnt er, ihren Herren „zu dienen von Herzen mit gutem Willen” (vgl. Eph 6, 6 f). Ebenso Jakobus: „Irrt euch nicht, meine Brüder, und habt euren Glauben an unseren Herrn Jesus Christus nicht in Parteilichkeit” (2, 1) und: „Verlästert einander nicht” (4, II). Desgleichen Johannes in seinem Briefe: „Liebt nicht die Welt” (1 Joh 2, 15) und derartiges mehr. Ich sollte doch meinen, wo man sagt: „Wolle das oder jenes nicht” und wo in den göttlichen Geboten ein Tun oder Lassen als Leistung des Willens gefordert wird, da wird zur Genüge der freie Wille bewiesen. Niemand soll also Gott in seinem Herzen vorschützen, ein jeder lege es vielmehr sich selber zur Last, wenn er eine Sünde begeht. Andererseits soll er, wenn er ein Werk mit Gott verrichtet, dies nicht trennen vom eigenen Willen. Tut er es nämlich mit freiem Willen, so muss man es ein gutes Werk nennen, alsdann ist ein Lohn für das gute Werk zu erhoffen von jenem, der, wie es heißt, „einem jeden vergilt nach seinen Werken” (Mt 16, 27).
Unwissenheit von Gesetz und Gebot schützen nicht vor Strafe
III, 5. Jenen, die also die göttlichen Gebote kennen, wird die Ausrede genommen, welche die Menschen gewöhnlich von der Unwissenheit her haben. Aber auch die, welche Gottes Gebot nicht kennen, bleiben ihrerseits nicht ohne Strafe. „Wer immer ohne Gesetz sündigt, geht auch ohne Gesetz zugrunde, und wer im Besitze des Gesetzes sündigt, wird auch durch das Gesetz verurteilt werden” (Röm 2, 12). Dies hat aber der Apostel, wie mir dünkt, nicht so gemeint, als hätte er damit zu erkennen gegeben, jene die in ihren Sünden das Gesetz nicht kennen, würden etwas Schlimmeres erleiden, als jene die das Gesetz kennen. Dem Anschein nach ist nämlich das Zugrundegehen schlimmer als das Verurteilt werden. Aber während er dies von den Heiden und Juden sagte, weil jene ohne Gesetz leben, diese es aber empfangen haben, wer wollte da den Mut auf-bringen zu behaupten, die Juden, die trotz des Gesetzes sündigen, würden nicht zugrunde gehen, trotzdem sie nicht an Christus glaubten, da es nun einmal von ihnen heißt: „Sie werden durch das Gesetz verurteilt werden”? Ohne den Glauben an Christus kann nämlich niemand erlöst werden. Und demzufolge werden sie zum Verderben verurteilt werden. Denn wenn die Lage der Unwissenden schlechter ist als die jener, die das Gesetz Gottes kennen, wie kann dann das Wort des Herrn im Evangelium wahr sein: „Der Knecht, der den Willen seines Herrn nicht kennt und strafwürdig handelt, wird wenige Schläge erhalten, jener aber, der den Willen seines Herrn kennt und strafwürdig handelt, wird viele Schläge erhalten” (Luk 12, 48 und 47) ? Siehe das ist die Stelle, wo er zeigt, daß der Wissende schwerer sündigt als der Unwissende. Dennoch darf man seine Zuflucht nicht deshalb zur Nacht der Unwissenheit nehmen, daß jeder darin eine Entschuldigung suche. Unwissenheit und gewollte Unkenntnis ist nämlich zweierlei. Denn der Wille wird bei dem angeklagt, von dem es heißt: „Er wollte keine Einsicht zu gutem Wandel” (Ps 35, 4). Aber auch die Unwissenheit, die nicht jene besitzen, die nicht wissen wollen, sondern jene, die gleichsam einfach nicht wissen, entschuldigt niemanden in dem Maße, daß er nicht im ewigen Feuer brennen braucht, wenn er deswegen nicht geglaubt hat, weil er überhaupt nicht gehört hat, was er glauben sollte. Aber vielleicht [entschuldigt sie] so, daß ihn ein milderes Feuer verzehrt. Denn nicht ohne Grund ist gesagt: „Gieße deinen Zorn über die Heiden aus, die dich nicht kennen” (Ps 78, 6); und jenes Apostelwort: „Wenn er kommt in Feuerflammen, denen Strafe zu geben, die Gott nicht kennen” (2 Ths r, 8). Sondern damit wir auch das Wissen selbst haben, auf daß keiner sage: „Ich habe nicht gewußt, nicht gehört, nicht verstanden”, wird der menschliche Wille angesprochen mit den Worten: „Seid nicht wie Esel und Maultiere, die keine Vernunft haben” (Ps 31, 9), wenn auch der schlechter erscheint, von dem es heißt: „Mit Worten allein läßt sich ein Knecht nicht erziehen; denn versteht er sie auch, so folgt er doch nicht” (Spr 29, 19). Wenn aber der Mensch sagt: „Ich kann das Gebot nicht ausführen, da meine Leidenschaft mich übermannt”, kann er sich nunmehr nicht weiter auf seine Unwissenheit hinausreden und in seinem Herzen auch nicht Gott als Grund angeben, sondern er nimmt seinen Fehler an sich wahr und bedauert ihn. Trotzdem hält ihm der Apostel entgegen: „Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege durch das Gute das Böse” (Röm 12, 21). Und sagt man einem: „Lass dich nicht besiegen”, so spricht man ohne Zweifel unter allen Umständen seinen freien Willen an. Wollen und Nichtwollen setzt ja einen eigenen freien Willen voraus.
Die Zeugnisse der Schrift für die Willensfreiheit darf man nicht als Ablehnung der Gnadenhilfe Gottes auffassen
IV, 6. Man muss jedoch befürchten, es möchten alle vorliegenden göttlichen Zeugnisse und alle sonst noch vorhandenen, deren Zahl zweifellos übergroß ist, bei der Verteidigung des freien Willens so aufgefasst werden, daß kein Platz mehr übrig bleibt für die göttliche Gnadenhilfe zu einem frommen Leben und guten Wandel, dem ein ewiger Lohn gebührt. Und weiter, daß der elende Mensch wagt, wenn er gut lebt und gut handelt oder vielmehr sich einbildet, gut zu leben und zu wirken, sich in sich selbst und nicht im Herrn zu rühmen und die Hoffnung, recht zu leben, auf sich selbst zu setzen, so daß ihm der Fluch des Propheten Jeremias folgt: „Verflucht der Mann, der auf Menschen vertraut, das Fleisch seines Armes stärkt, dessen Herz sich abkehrt von Gott” (17, 5). Begreift, Brüder, dieses prophetische Zeugnis recht. Denn weil der Prophet nicht sagte: „Verflucht der Mann, der auf sich selbst vertraut”, könnte es einem vorkommen, es sei deswegen gesagt worden: „Verflucht der Mann, der auf einen Menschen vertraut”, daß niemand seine Hoffnung auf einen anderen Menschen, sondern auf sich setze. Um zu zeigen, er habe den Menschen so ermahnt, daß er auch nicht auf seine eigene Person baue, deshalb hat er nach den Worten: „Verflucht der Mann, der auf Menschen vertraut” gleich hinzugefügt: „Und stärkt das Fleisch seines Armes”. Arm setzte er für die Fähigkeit zum Wirken. Unter dem Wort „Fleisch” ist aber die menschliche Gebrechlichkeit zu fassen. Und demzufolge stärkt das Fleisch seines Armes, wer glaubt, sein gebrechliches und ohnmächtiges, d. h. menschliches Vermögen genüge ihm zum guten Handeln, und nicht auf die Gnadenhilfe vom Herrn hofft; deshalb fügte er bei: „dessen Herz sich ab-kehrt von Gott”. So geartet ist die Irrlehre der Pelagianer, die nicht alt, sondern erst vor kurzem aufgetaucht ist. Obgleich man gegen diese Häresie ziemlich lange disputiert hatte, ist es notgedrungen sogar zu den jüngsten Bischofskonzilien gekommen. Daher habe ich euch zwar nicht alles, aber doch einiges zum Lesen geschickt. Wir wollen also die Hoffnung auf ein gutes Wirken nicht auf Menschen setzen, indem wir das Fleisch unseres Armes stärken. Und unser Herz kehre sich nicht ab vom Herrn, sondern sage zu ihm: „Du bist ja mein Helfer: verstoße mich nicht und verachte mich nicht, mein hilfreicher Gott!” (Ps 26, 9).
Mt 19, 11 als göttliches Zeugnis für die Gnade
7. Wir haben demnach, meine Lieben, durch die obigen Zeugnisse der Hl. Schrift bewiesen, daß der Mensch freien Willen zu einem guten Leben und zum rechten Handeln besitzt. Ebenso wollen wir nun auch betreffs der Gnade, ohne die wir nichts Gutes tun können, sehen, welches die göttlichen Zeugnisse sind. Und in erster Linie will ich gerade über euren Stand etwas anführen. Denn diese Gesellschaft, in der ihr enthaltsam lebt, würde euch nicht vereinigen, wenn ihr nicht die Freude der Ehe verachtetet. Als der Herr von diesem Gedanken ausgehend sprach und seine Jünger zu ihm gesagt hatten: „Wenn es so um das Verhältnis von Mann und Weib bestellt ist, dann ist es nicht zuträglich, zu heiraten” (Mt 19, 10), antwortete er ihnen: „Nicht alle fassen dieses Wort, sondern nur die, denen es gegeben wurde” (19, II). Hat nicht der Apostel den freien Willen des Timotheus angefeuert mit den Worten: „Bewahre dich selbst lauter!” (i Tim 5, 22). Und in diesem Punkt zeigt er die Macht des Willens auf, wo er sagt: „Wer aber keine Not leidet, vielmehr die Herrschaft über seinen Willen besitzt (und das in seinem Herzen beschlossen hat), seine Jungfrau zu bewahren” (i Kor 7, 37). Und trotzdem fassen nicht alle dieses Wort, sondern nur jene, denen es gegeben ist. Denn jene, denen es nicht gegeben ist, die wollen entweder nicht, oder sie erfüllen nicht, was sie wollen; denen es aber gegeben ist, die wollen so, daß sie auch erfüllen, was sie wollen. Deshalb ist es einerseits Gnade Gottes, andererseits freier Wille, daß dieses nicht von allen gefasste Wort doch von einigen erfasst wird.
Augustinus, De gratia et libero arbitrio, in: Augustinus, Schriften gegen die Semipelagianer, Würzburg 1954, S. 76ff. [Auszüge, zusammengestellt von Reinhard Neebe]
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