Zum Streit zwischen Luther und Erasmus über den "freien Willen": Kommentierung des evangelischen Theologen Wilfried Härle, 2009
Während Erasmus - ebenso wie Augustinus und Thomas von Aquin - dem freien Willen "einiges" zuschreibt, das "meiste aber der Gnade", billigt Luther dem freien Willen "gar nichts" und der Gnade "alles" zu.
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Der Streit geht nicht darum, ob das menschliche Willensvermögen im Bereich des alltäglichen Lebens und der bürgerlichen Gerechtigkeit etwas auszurichten vermag oder ob es sich dem Bösen aus eigener Kraft zuwenden kann - das alles bestreitet Luther nicht, sondern vertritt es selbst ausdrücklich -, die Streitfrage lautet vielmehr, ob der Mensch die Fähigkeit hat, sich dem zuzuwenden, was zum ewigen Heil führt. Und dabei ist die entscheidende Frage, ob der Mensch die Entscheidung für das, was zum ewigen Heil führt, aus der Kraft seines natürlichen Willensvermögens, d. h. aus sich selbst, treffen kann, oder ob dies nur auf Grund bzw. mit Hilfe der Gnade Gottes möglich ist.
Im Blick auf die Beantwortung dieser Frage entwickelt Erasmus zunächst eine Typologie von fünf in der Theologie vertretenen Positionen. Diese fünf Positionen ergeben sich aus den Aussagen der ,Diatribe' (ErAS 4,56-59 und 188 f.). Erasmus hat sie dann in seiner Antwort an Luther von 1526 unter dem Titel: ,Hyperaspistes' (in: ErAS 4,197-675) auf S. 642 f. noch einmal zusammengefasst. Danach vertritt Pelagius die Auffassung, die dem freien Willen am meisten zuweist, Duns Scotus die Position, die dem freien Willen ,reichlich viel' (,affatim', 188 f.) zubilligt, Augustinus und Thomas vertreten die dritte, mittlere Position, Karlstadt vertritt eine vierte, ,härtere' (,durior', 56 f.642 f.), der zufolge der freie Wille zu nichts fähig ist außer zum Sündigen. Die fünfte und ,härteste' (,durissima', 58 f. 642 f.) vertreten der Einschätzung des Erasmus zufolge Wyclif und Luther, die dem freien Willen gar nichts zubilligen.
Er selbst macht sich die mittlere Position zu Eigen, die er als die von Augustinus und Thomas von Aquin identifiziert. Von ihnen sagt er, sie seien diejenigen, die „das meiste auf die Gnade zurück[führen], auf den freien Willen beinahe nichts, ohne ihn völlig zu beseitigen: Sie leugnen, daß der Mensch etwas Gutes wollen könne ohne ,besondere' Gnade, sie leugnen, daß er beginnen könne, sie leugnen, daß er Fortschritte machen könne, sie leugnen, daß er vollenden könne ohne eine grundlegende und dauernde Hilfe der göttlichen Gnade."44
Am Ende der ,Diatribe' fasst Erasmus dann noch einmal die Hauptpunkte seiner Auffassung knapp zusammen [...]:
1. Dem freien Willen ist einiges zuzuschreiben, das meiste aber der Gnade.
2. Es gibt gute Werke, aber der Mensch darf sich darauf nichts einbilden.
3. Es gibt ein Verdienst, aber man verdankt es Gott.
4. Gott muss vom Vorwurf der Grausamkeit und Ungerechtigkeit frei bleiben. Vom Menschen muss die Verzweiflung genommen werden, damit er zum sittlichen Streben angespornt werde.
Dieser zuletzt genannte Punkt ist für Erasmus von größter Bedeutung, er benennt - so kann man wohl sagen - sein theologisches Hauptanliegen. […]
Während Melanchthon nach der Lektüre der ,Diatribe' sich Erasmus gegenüber erleichtert über den maßvollen Ton seiner Schrift äußerte, wurde Luther durch die Lektüre dieses Buches von einem tiefen Widerwillen erfasst. Das mag - mit - erklären, warum Luther die Antwort an Erasmus über ein Jahr hinauszögerte und erst Ende 1525 seine Schrift ,De servo arbitrio' veröffentlichte, die in ihrem Aufbau dem Gedankengang der ,Diatribe' folgt, dabei aber gnadenlos und mit beißender Schärfe und Ironie alle theologischen Schwachstellen bei Erasmus aufdeckt.
[…] Dass Erasmus […] durchgängig die These vertritt, dem freien Willensvermögen des Menschen sei einiges zuzuschreiben, kann Luther nur als einen gravierenden inneren Widerspruch beurteilen. Würde Erasmus die Augustin'sche Position wirklich ernst nehmen, zu der er sich verbal bekennt, so gäbe es in dieser Frage gar keine sachliche Differenz zwischen Erasmus und Luther. Erasmus müsste dann aber all seine Angriffe gegen Luther einstellen und ihm zustimmen.
Luthers Fazit lautet: „der Wille kann sich nicht ändern und anderswohin wenden". Und das ist für ihn ein Beweis dafür, dass der Mensch kein freies Willensvermögen hat, mit dessen Hilfe er sich Gott in Vertrauen und Liebe zuwenden könnte. […]
Dass der Mensch an der Konstitution seiner Affekte, die sein ganzes Dasein bestimmen, nur passiv beteiligt ist, nämlich auf Grund dessen, was ihm widerfährt, hat Luther in ,De servo arbitrio' zum Ausdruck gebracht in dem drastischen Bild vom Menschen als Zugtier oder Reittier, das von Gott oder vom Teufel besessen und geritten wird, wohin diese wollen. Dabei bestreitet Luther ausdrücklich, dass es am Willensvermögen des Menschen liege, „zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn zu suchen. Vielmehr streiten die Reiter selbst darum, es in Besitz zu nehmen und in Besitz zu behalten". Das ist deswegen so, weil das Wählen des Reittiers bereits voraussetzen würde, dass es durch einen der Reiter angezogen bzw. affiziert ist. Dieses Affiziertwerden geht aber nicht vom Reittier, sondern von den Reitern aus. Deswegen ist die Entscheidung zwischen Gut und Böse ein Machtkampf, der um den Menschen geführt wird. Das von Luther verwendete Bild enthält freilich auch einen dualistischen und deterministischen Zug, durch den nicht mehr hinreichend klar zum Ausdruck kommt, dass das menschliche Willensvermögen an der Entscheidung für das Böse - nicht für das Gute! - ursächlich beteiligt ist. Insofern wird man dieses Bild nicht überstrapazieren dürfen, wenn die Kohärenz der Einsichten Luthers nicht verloren gehen soll.
M A R T I N L U T H E R. LATEINISCH-DEUTSCHE STUDIENAUSGABE. BAND 1 DER MENSCH VOR GOTT Unter Mitarbeit von Michael Beyer, herausgegeben und eingeleitet von Wilfried Härle, Leipzig 2009. Einleitung S. XXIV bis XXXIV [Auszüge, zusammengestellt von Reinhard Neebe]
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