4. Humanitäre Hilfeleistungen
IV. Humanitäre Hilfsleistungen
Spontane Hilfe
Ohne spontane Hilfe der einheimischen Bevölkerung wäre die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge und Vertriebenen nicht gelungen. Die einlaufenden Flüchtlingstransporte wurden betreut, Wohnraumerfassungskommissionen benötigten freiwillige Mitarbeiter, Flüchtlingsquartiere wurden freiwillig zur Verfügung gestellt, alltägliche Gebrauchsgegenstände hergegeben, Nahrungsmittel und Kleidung verschenkt. So sammelte das Großhessische Hilfswerk, eine Hilfsorganisation des Landes, für die Flüchtlinge und Vertriebenen z.B. allein in Groß-Bieberau (Kreis Darmstadt-Dieburg) im Juni 1946 über 200 Kleidungsstücke. Die meisten kleinen Dienste geschahen im Stillen. Doch es gab auch aufwendigere Wohltätigkeitsveranstaltungen. (Dok. 15) Eine große Rolle spielten auch Hilfen und Spenden, die Flüchtlingen anderen Flüchtlingen zukommen ließen.
Beschaffung von Kleidung und Lebensmitteln
Viele Vertriebene und Flüchtlinge hatten buchstäblich nur das nackte Leben retten können und besaßen oft lediglich das, was sie am Leibe trugen. Besonders bedrohlich war die Situation für Mütter, Kinder und alte Menschen. Humanitäre Soforthilfe, die am Ankunftsbahnhof begann, hieß da zunächst Kampf gegen Hunger, Kälte und Krankheit. Individuelle Hilfsangebote der Einheimischen, vor allem aber großzügige Auslandsspenden hochwertiger Lebensmittel, Textilien und Medikamente linderten die größte materielle Not der ersten Tage. Weltweit sammelten Einzelpersonen und Wohlfahrtsorganisationen Hilfs-güter für Deutschland, so daß in allen Durchschleusungs- und Auffanglagern Spendenlieferungen verteilt werden konnten.
Daß trotzdem Mängel in der Verpflegung auftraten genauso wie in der Versorgung mit Kleidung, Schuhen und Hausrat, war vor allem eine Folge des katastrophalen Sachgüter-mangels, den der Krieg verursacht hatte. Die einheimische Bevölkerung war davon ebenso betroffen. Aber gestützt auf den persönlichen Einsatz tausender ehrenamtlicher Helfer, mehrheitlich Frauen (70%), vermochten die Wohlfahrtsverbände und Kirchen in gemeinsamer Anstrengung erste Starthilfen zu geben. Ohne überdurchschnittliches Engagement der Freiwilligen und ohne Kooperationsbereitschaft der Hilfsorganisationen untereinander wäre diese Arbeit nicht zu leisten gewesen, da nachkriegsbedingte Schwierigkeiten die Wohlfahrtsarbeit stark erschwerten: Das Verkehrsnetz war mangelhaft, das Post- und Telefonnetz unzulänglich, sämtliche Transportmittel einschließlich der Fahrräder äußerst knapp; auch andere technische Mittel, die nun einmal für den Aufbau eines Organisations- und Verwaltungsapparats unentbehrlich sind, waren kaum verfügbar. (Dok. 16) Außerdem mußten sämtliche Auflagen der Militärverwaltung eingehalten werden, da erst die Erlaubnis des amerikanischen Präsidenten Hüfslieferungen in das besiegte Deutschland ermöglichten.
Kranke und hilfsbedürftige Flüchtlinge empfingen 80% der Gaben, besonders Kinder, werdende Mütter und alte Leute. Unzählige verdanken so ihre Gesundheit und ihr Leben den vielen Menschen im In- und Ausland, die Spendefreudigkeit und Hilfsbereitschaft besaßen. (Dok. 17)
Hilfe beim Einleben
Zwar hofften viele Flüchtlinge, die Vertreibung könnte nur vorübergehend gewesen sein, doch gelangten sie zunehmend zu der Einsicht, daß ihre neue Situation als Folge des Krieges unveränderbar war. Spätestens im Heimlager wurde den meisten bewußt, daß mit der Gemeindeunterbringung der Aufenthalt von Dauer sein dürfte. Politische Anzeichen für eine Änderung der alliierten Umsiedlungspolitik gab es nicht.
Die Frage des Heimischwerdens der Flüchtlinge stand daher für die amtlichen Stellen und Organisationen der freien Wohlfahrtspflege wie auch für die Kirchen bewußt im Vordergrund ihrer Bemühungen. Aufbauende Arbeit verstanden sie so als kontinuierliche Betreuung und unentgeldliche Beratung in den Übergangsquartieren und Heimlagern, damit das Einleben in einem neuen Zuhause möglichst rasch und erfolgreich gelingen konnte. Mitarbeiter der Verbände berieten beim Einreichen von Anträgen, indem die Fälle von ihnen überprüft und befürwortet wurden. Soweit es möglich war, leisteten sie Beihilfen aus den Mitteln der Organisationen, z.B. für dringend benötigte Anschaffungen des täglichen Bedarfs. In Gebieten, wo durch Fehlverteilung von Zuwanderern soziale Spannungen herrschten, wurden Umsiedlungspläne unterstützt, damit Verdienstmöglichkeiten für die Arbeitsfähigen vermittelt werden konnten. Dort, wo die Trennung zahlreicher Arbeitskräfte von ihren Familien Unzufriedenheit auslöste, wurde Sozialfürsorge angeboten, bis Zusammenführungen möglich waren. Geld- und Sachspenden wurden verteilt, für die Kinder wurden wenigstens an Weihnachten einmal Spielsachen ausgegeben, in besonders trostlosen Unterkünften wie in Wohnbunkern wurden Sommer- und Weihnachtsfeste organisiert.
Die Angebote, so gut sie auch gemeint waren, konnten jedoch in vielen Fällen lähmende Hoffnungslosigkeit nicht verhindern. Die Strapazen der Vertreibung, der anschließenden Unterernährung und Überarbeitung forderten ihren Tribut. Als wirkungsvolles und erfolgreiches Hilfsmittel zeigte sich hier in besonders bedrohlichen Fällen die Erholungsfürsorge; sie half vor allem Kindern, Jugendlichen und Müttern, in der neuen Gesellschaft wieder Fuß zu fassen. (Dok. 18)
Seelsorge
Die Vertreibung löste bei den meisten Menschen eine tiefgreifende und langfristige Lebenskrise aus, die sich mit materiellen Eingliederungshilfen allein nicht erledigte. Dringend suchten Menschen seelsorgerlichen Beistand in dieser Situation, auch wenn die Seelsorge hier oft überfordert war. So fehlten in fast allen Aufnahmegebieten Pfarrer und Gotteshäuser. Außerdem konnten angesichts der Zunahme der Flüchtlingsströme keine zusätzlichen Rücksichten auf die bestehenden Konfessionsstrukturen genommen werden, wenn neue Zuweisungsgebiete gefunden werden mußten. Spannungen innerhalb dieser Gemeinden blieben daher unvermeidbar.
Mit ausländischer Hilfe konnte das Evangelische Hilfswerk wenigstens 48 Notkirchen, 38 Kirchenbaracken und 14 Gemeindezentren errichten. Die Kirchenleitungen setzten sich dafür ein, daß die Gotteshäuser von beiden Konfessionen gemeinsam benutzt werden konnten. Für die Liturgie standen vor allem gespendete Bibeln zur Verfügung; die amerikanische Bibelgesellschaft in New York schickte 20 500 Neue Testamente.
Kirchliches Zentrum der katholischen Heimatvertriebenen war die Diözese Limburg. Die seelsorgerliche Betreuung lag vor allem bei 80 Flüchtlingspriestern, die in die Diözese
gekommen waren und dort eingestellt wurden. (Dok. 19) In Königstein/Ts. entstand ein Internat für Jungen aus heimatvertriebenen Familien (Albertus-Magnus-Schule, ab 1946). Außerdem wurde in einer ehemaligen Kaserne der Wehrmacht, die das Land Hessen zur Verfügung stellte, ein Priesterseminar für vertriebene Theologen eingerichtet (Philosophisch-Theologische Hochschule Königstein 1946-1977/78).
So brachten erst die Selbsthilfe vertriebener Theologen, gemeinsame Anstrengungen beider Großkirchen und außergewöhnliche Auslandshilfen wie die Kapellenwagenmission die seelsorgerliche Arbeit in Gang. (Dok. 20)
Am schwierigsten erwies es sich in Seelsorgegesprächen, den Vertriebenen Mut zum Neuanfang zu machen - wider alle trügerischen Hoffnungen - und bei den Einheimischen Verständnis und Bereitschaft zu wecken, daß die Neubürger gleichberechtigt aufgenommen wurden.
Die seelsorgerliche Schwerpunktarbeit beider Kirchen konzentrierte sich letztlich auf die Integration der Vertriebenen in den jeweiligen Zuweisungsgemeinden. Dabei standen dort zunächst praktische Alltagsfragen im Vordergrund. Gleichzeitig bemühten sich die Kirchen, die schier unlösbare Aufgabe der geistigen Bewältigung der Heimatvertreibung seelsorgerlich anzupacken. So unterstützte die Kirche die Kulturarbeit der Heimatvertriebenen, nahm an ihren landsmannschaftlichen Tagungen teil, bot Wallfahrten an und respektierte zunächst grundsätzlich den Wunsch auf Rückkehr. Erst in der Denkschrift der EKD über "Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn" wurde der Rechtsanspruch auf die Rückgabe der Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie aufgegeben, damit eine neue friedliche Ordnung zwischen Polen und Deutschen geschaffen werden könne.
Eingliederungshilfe für Jugendliche (Tafel 23)
Unter den Flüchtlingen gab es einen unverhältnismäßig großen Anteil von Jugendlichen aus zerrissenen Familien oder ohne jeden Familienzusammenhang. Die älteren unter ihnen hatten oft gar keine oder nur eine unzureichende Berufsausbildung, da sie häufig genug direkt von der Schulbank in die Wehrmacht eingezogen worden waren. Ohne persönliche Schuld dann aus fast allen gesetzten Ordnungen wie Heimat, Familie, Verein, Ausbildungsstelle usw. geraten, fehlte den meisten Jugendlichen die tragende Umwelt, um mit den ungewohnten Lebensumständen zurechtzukommen oder gar eine sichere Existenz aufbauen zu können. So waren viele überfordert, ohne fremde Hilfe den Weg zu einem gesellschaftlich anerkannten und selbständigen Leben zu finden. Viele trieben sich auf Bahnhöfen und auf Landstraßen herum oder versuchten ihr Glück auf dem Schwarzen Markt. Straffälligkeit war nicht selten.
Zur Beseitigung dieser bedrohlichen Krisensituarion entwickelten staatliche Stellen zusam
men mit den Wohlfahrtsverbänden und Kirchen ein gezieltes Programm für Jugendsozialarbeit. So wurden zunächst mit Hilfe der Jugendlichen selbst Jugendlager und dann Jugend
notheime errichtet und dank ausländischer Hilfe schließlich auch erste Jugendlehrwerkstätten gebaut. (Dok. 21) Die Betreuungsarbeit ging von dem Grundsatz aus, daß gute beruflicheFörderung sozialer Integration bedarf. Gesprächsangebote zur Bewältigung persönlicher
Probleme waren daher genauso Teil der Sozialmaßnahmen wie die garantierte Wohnstelle,ohne die es keinen Arbeitsplatz gab. Tausende von Jugendlichen erlebten dort eine neue
sozial betreute Gemeinschaft, in der sie sich selbstverantwortlich eine berufliche Zukunftsperspektive erarbeiten konnten. (Dok. 22) Lehrstellenvermittlung ergänzte die Ausbildungsförderung.
Dauerhaft Siedeln
Je unerträglicher das Leben in den zugewiesenen Notwohnungen wurde und je aussichtsloser die Rückkehr in das Zuhause der alten Heimat erschien, desto stärker drängten die Ausgesiedelten darauf, bald wieder zu einer normalen Existenz zu kommen. Als Grundlage für einen dauerhaften Neuanfang stand der Wunsch nach menschenwürdigen Wohnverhältnissen ganz obenan. Im Willen zur Neugründung von Siedlungen zeigte sich gleichzeitig am deutlichsten das Eingliederungsinteresse der Vertriebenen. Als Randgruppe in Flüchtlingsghettos zu leben, kam für sie nicht in Frage.
Jedoch war keine Hilfsforderung schwieriger zu lösen. Denn die Siedlungswilligen waren nicht nur vertreibungsbedingt mittellos, sondern vor allem war der allgemeine Wohnungsbedarf nach den Kriegszerstörungen riesig wie nie zuvor. Daher waren billige Baukredite, preiswertes Bauland und gutes Arbeitsgerät kaum zu bekommen.
Mit der Gründung der Baugemeinde wagte jedoch das Evangelische Hilf s werk 1946 wohl sein mutigstes Nachkriegsprojekt für Vertriebene und Flüchtlinge. Als Pilotprojekt entstand die Siedlung Heilsberg/Bad Vilbel bei Frankfurt/M. Die Ökumene spendete hierfür große Geldbeträge, der Staat half mit billigem Baugeld und die Siedler selbst gingen in unermüdlicher Selbsthilfe, zunächst sogar ohne jeden Maschineneinsatz ans Werk. Für die Arbeitsfähigen war damit gleichzeitig eine Verdienstmöglichkeit gefunden, um den Lebensunterhalt selbst zu finanzieren.
Materialsparend gebaut entstanden in erstaunlich kurzer Zeit äußerst preisgünstige Wohnungen. Städteplanerisch schuf die Siedlergemeinschaft eine Anlage mit einer ausreichenden Zahl gewerblicher Betriebe, Erwerbsgärtnereien und Heimen für alte und kriegsversehrte Menschen. Viele Einheimische, die dem Projekt zunächst sehr skeptisch gegenübergestanden hatten, bezeugten Respekt vor dieser Leistung.
Die Siedlung Bad Vilbel-Heilsberg erwies sich als ein Modell, das landesweit Nachahmung fand. Auch die katholische Kirche engagierte sich in der Siedlungsfrage. Im Bauorden halfen Freiwillige aus europäischen Ländern beim Straßen- und Häuserbau.
Spontane Hilfe
Ohne spontane Hilfe der einheimischen Bevölkerung wäre die Aufnahme, Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge und Vertriebenen nicht gelungen. Die einlaufenden Flüchtlingstransporte wurden betreut, Wohnraumerfassungskommissionen benötigten freiwillige Mitarbeiter, Flüchtlingsquartiere wurden freiwillig zur Verfügung gestellt, alltägliche Gebrauchsgegenstände hergegeben, Nahrungsmittel und Kleidung verschenkt. So sammelte das Großhessische Hilfswerk, eine Hilfsorganisation des Landes, für die Flüchtlinge und Vertriebenen z.B. allein in Groß-Bieberau (Kreis Darmstadt-Dieburg) im Juni 1946 über 200 Kleidungsstücke. Die meisten kleinen Dienste geschahen im Stillen. Doch es gab auch aufwendigere Wohltätigkeitsveranstaltungen. (Dok. 15) Eine große Rolle spielten auch Hilfen und Spenden, die Flüchtlingen anderen Flüchtlingen zukommen ließen.
Beschaffung von Kleidung und Lebensmitteln
Viele Vertriebene und Flüchtlinge hatten buchstäblich nur das nackte Leben retten können und besaßen oft lediglich das, was sie am Leibe trugen. Besonders bedrohlich war die Situation für Mütter, Kinder und alte Menschen. Humanitäre Soforthilfe, die am Ankunftsbahnhof begann, hieß da zunächst Kampf gegen Hunger, Kälte und Krankheit. Individuelle Hilfsangebote der Einheimischen, vor allem aber großzügige Auslandsspenden hochwertiger Lebensmittel, Textilien und Medikamente linderten die größte materielle Not der ersten Tage. Weltweit sammelten Einzelpersonen und Wohlfahrtsorganisationen Hilfs-güter für Deutschland, so daß in allen Durchschleusungs- und Auffanglagern Spendenlieferungen verteilt werden konnten.
Daß trotzdem Mängel in der Verpflegung auftraten genauso wie in der Versorgung mit Kleidung, Schuhen und Hausrat, war vor allem eine Folge des katastrophalen Sachgüter-mangels, den der Krieg verursacht hatte. Die einheimische Bevölkerung war davon ebenso betroffen. Aber gestützt auf den persönlichen Einsatz tausender ehrenamtlicher Helfer, mehrheitlich Frauen (70%), vermochten die Wohlfahrtsverbände und Kirchen in gemeinsamer Anstrengung erste Starthilfen zu geben. Ohne überdurchschnittliches Engagement der Freiwilligen und ohne Kooperationsbereitschaft der Hilfsorganisationen untereinander wäre diese Arbeit nicht zu leisten gewesen, da nachkriegsbedingte Schwierigkeiten die Wohlfahrtsarbeit stark erschwerten: Das Verkehrsnetz war mangelhaft, das Post- und Telefonnetz unzulänglich, sämtliche Transportmittel einschließlich der Fahrräder äußerst knapp; auch andere technische Mittel, die nun einmal für den Aufbau eines Organisations- und Verwaltungsapparats unentbehrlich sind, waren kaum verfügbar. (Dok. 16) Außerdem mußten sämtliche Auflagen der Militärverwaltung eingehalten werden, da erst die Erlaubnis des amerikanischen Präsidenten Hüfslieferungen in das besiegte Deutschland ermöglichten.
Kranke und hilfsbedürftige Flüchtlinge empfingen 80% der Gaben, besonders Kinder, werdende Mütter und alte Leute. Unzählige verdanken so ihre Gesundheit und ihr Leben den vielen Menschen im In- und Ausland, die Spendefreudigkeit und Hilfsbereitschaft besaßen. (Dok. 17)
Hilfe beim Einleben
Zwar hofften viele Flüchtlinge, die Vertreibung könnte nur vorübergehend gewesen sein, doch gelangten sie zunehmend zu der Einsicht, daß ihre neue Situation als Folge des Krieges unveränderbar war. Spätestens im Heimlager wurde den meisten bewußt, daß mit der Gemeindeunterbringung der Aufenthalt von Dauer sein dürfte. Politische Anzeichen für eine Änderung der alliierten Umsiedlungspolitik gab es nicht.
Die Frage des Heimischwerdens der Flüchtlinge stand daher für die amtlichen Stellen und Organisationen der freien Wohlfahrtspflege wie auch für die Kirchen bewußt im Vordergrund ihrer Bemühungen. Aufbauende Arbeit verstanden sie so als kontinuierliche Betreuung und unentgeldliche Beratung in den Übergangsquartieren und Heimlagern, damit das Einleben in einem neuen Zuhause möglichst rasch und erfolgreich gelingen konnte. Mitarbeiter der Verbände berieten beim Einreichen von Anträgen, indem die Fälle von ihnen überprüft und befürwortet wurden. Soweit es möglich war, leisteten sie Beihilfen aus den Mitteln der Organisationen, z.B. für dringend benötigte Anschaffungen des täglichen Bedarfs. In Gebieten, wo durch Fehlverteilung von Zuwanderern soziale Spannungen herrschten, wurden Umsiedlungspläne unterstützt, damit Verdienstmöglichkeiten für die Arbeitsfähigen vermittelt werden konnten. Dort, wo die Trennung zahlreicher Arbeitskräfte von ihren Familien Unzufriedenheit auslöste, wurde Sozialfürsorge angeboten, bis Zusammenführungen möglich waren. Geld- und Sachspenden wurden verteilt, für die Kinder wurden wenigstens an Weihnachten einmal Spielsachen ausgegeben, in besonders trostlosen Unterkünften wie in Wohnbunkern wurden Sommer- und Weihnachtsfeste organisiert.
Die Angebote, so gut sie auch gemeint waren, konnten jedoch in vielen Fällen lähmende Hoffnungslosigkeit nicht verhindern. Die Strapazen der Vertreibung, der anschließenden Unterernährung und Überarbeitung forderten ihren Tribut. Als wirkungsvolles und erfolgreiches Hilfsmittel zeigte sich hier in besonders bedrohlichen Fällen die Erholungsfürsorge; sie half vor allem Kindern, Jugendlichen und Müttern, in der neuen Gesellschaft wieder Fuß zu fassen. (Dok. 18)
Seelsorge
Die Vertreibung löste bei den meisten Menschen eine tiefgreifende und langfristige Lebenskrise aus, die sich mit materiellen Eingliederungshilfen allein nicht erledigte. Dringend suchten Menschen seelsorgerlichen Beistand in dieser Situation, auch wenn die Seelsorge hier oft überfordert war. So fehlten in fast allen Aufnahmegebieten Pfarrer und Gotteshäuser. Außerdem konnten angesichts der Zunahme der Flüchtlingsströme keine zusätzlichen Rücksichten auf die bestehenden Konfessionsstrukturen genommen werden, wenn neue Zuweisungsgebiete gefunden werden mußten. Spannungen innerhalb dieser Gemeinden blieben daher unvermeidbar.
Mit ausländischer Hilfe konnte das Evangelische Hilfswerk wenigstens 48 Notkirchen, 38 Kirchenbaracken und 14 Gemeindezentren errichten. Die Kirchenleitungen setzten sich dafür ein, daß die Gotteshäuser von beiden Konfessionen gemeinsam benutzt werden konnten. Für die Liturgie standen vor allem gespendete Bibeln zur Verfügung; die amerikanische Bibelgesellschaft in New York schickte 20 500 Neue Testamente.
Kirchliches Zentrum der katholischen Heimatvertriebenen war die Diözese Limburg. Die seelsorgerliche Betreuung lag vor allem bei 80 Flüchtlingspriestern, die in die Diözese
gekommen waren und dort eingestellt wurden. (Dok. 19) In Königstein/Ts. entstand ein Internat für Jungen aus heimatvertriebenen Familien (Albertus-Magnus-Schule, ab 1946). Außerdem wurde in einer ehemaligen Kaserne der Wehrmacht, die das Land Hessen zur Verfügung stellte, ein Priesterseminar für vertriebene Theologen eingerichtet (Philosophisch-Theologische Hochschule Königstein 1946-1977/78).
So brachten erst die Selbsthilfe vertriebener Theologen, gemeinsame Anstrengungen beider Großkirchen und außergewöhnliche Auslandshilfen wie die Kapellenwagenmission die seelsorgerliche Arbeit in Gang. (Dok. 20)
Am schwierigsten erwies es sich in Seelsorgegesprächen, den Vertriebenen Mut zum Neuanfang zu machen - wider alle trügerischen Hoffnungen - und bei den Einheimischen Verständnis und Bereitschaft zu wecken, daß die Neubürger gleichberechtigt aufgenommen wurden.
Die seelsorgerliche Schwerpunktarbeit beider Kirchen konzentrierte sich letztlich auf die Integration der Vertriebenen in den jeweiligen Zuweisungsgemeinden. Dabei standen dort zunächst praktische Alltagsfragen im Vordergrund. Gleichzeitig bemühten sich die Kirchen, die schier unlösbare Aufgabe der geistigen Bewältigung der Heimatvertreibung seelsorgerlich anzupacken. So unterstützte die Kirche die Kulturarbeit der Heimatvertriebenen, nahm an ihren landsmannschaftlichen Tagungen teil, bot Wallfahrten an und respektierte zunächst grundsätzlich den Wunsch auf Rückkehr. Erst in der Denkschrift der EKD über "Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn" wurde der Rechtsanspruch auf die Rückgabe der Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie aufgegeben, damit eine neue friedliche Ordnung zwischen Polen und Deutschen geschaffen werden könne.
Eingliederungshilfe für Jugendliche (Tafel 23)
Unter den Flüchtlingen gab es einen unverhältnismäßig großen Anteil von Jugendlichen aus zerrissenen Familien oder ohne jeden Familienzusammenhang. Die älteren unter ihnen hatten oft gar keine oder nur eine unzureichende Berufsausbildung, da sie häufig genug direkt von der Schulbank in die Wehrmacht eingezogen worden waren. Ohne persönliche Schuld dann aus fast allen gesetzten Ordnungen wie Heimat, Familie, Verein, Ausbildungsstelle usw. geraten, fehlte den meisten Jugendlichen die tragende Umwelt, um mit den ungewohnten Lebensumständen zurechtzukommen oder gar eine sichere Existenz aufbauen zu können. So waren viele überfordert, ohne fremde Hilfe den Weg zu einem gesellschaftlich anerkannten und selbständigen Leben zu finden. Viele trieben sich auf Bahnhöfen und auf Landstraßen herum oder versuchten ihr Glück auf dem Schwarzen Markt. Straffälligkeit war nicht selten.
Zur Beseitigung dieser bedrohlichen Krisensituarion entwickelten staatliche Stellen zusam
men mit den Wohlfahrtsverbänden und Kirchen ein gezieltes Programm für Jugendsozialarbeit. So wurden zunächst mit Hilfe der Jugendlichen selbst Jugendlager und dann Jugend
notheime errichtet und dank ausländischer Hilfe schließlich auch erste Jugendlehrwerkstätten gebaut. (Dok. 21) Die Betreuungsarbeit ging von dem Grundsatz aus, daß gute beruflicheFörderung sozialer Integration bedarf. Gesprächsangebote zur Bewältigung persönlicher
Probleme waren daher genauso Teil der Sozialmaßnahmen wie die garantierte Wohnstelle,ohne die es keinen Arbeitsplatz gab. Tausende von Jugendlichen erlebten dort eine neue
sozial betreute Gemeinschaft, in der sie sich selbstverantwortlich eine berufliche Zukunftsperspektive erarbeiten konnten. (Dok. 22) Lehrstellenvermittlung ergänzte die Ausbildungsförderung.
Dauerhaft Siedeln
Je unerträglicher das Leben in den zugewiesenen Notwohnungen wurde und je aussichtsloser die Rückkehr in das Zuhause der alten Heimat erschien, desto stärker drängten die Ausgesiedelten darauf, bald wieder zu einer normalen Existenz zu kommen. Als Grundlage für einen dauerhaften Neuanfang stand der Wunsch nach menschenwürdigen Wohnverhältnissen ganz obenan. Im Willen zur Neugründung von Siedlungen zeigte sich gleichzeitig am deutlichsten das Eingliederungsinteresse der Vertriebenen. Als Randgruppe in Flüchtlingsghettos zu leben, kam für sie nicht in Frage.
Jedoch war keine Hilfsforderung schwieriger zu lösen. Denn die Siedlungswilligen waren nicht nur vertreibungsbedingt mittellos, sondern vor allem war der allgemeine Wohnungsbedarf nach den Kriegszerstörungen riesig wie nie zuvor. Daher waren billige Baukredite, preiswertes Bauland und gutes Arbeitsgerät kaum zu bekommen.
Mit der Gründung der Baugemeinde wagte jedoch das Evangelische Hilf s werk 1946 wohl sein mutigstes Nachkriegsprojekt für Vertriebene und Flüchtlinge. Als Pilotprojekt entstand die Siedlung Heilsberg/Bad Vilbel bei Frankfurt/M. Die Ökumene spendete hierfür große Geldbeträge, der Staat half mit billigem Baugeld und die Siedler selbst gingen in unermüdlicher Selbsthilfe, zunächst sogar ohne jeden Maschineneinsatz ans Werk. Für die Arbeitsfähigen war damit gleichzeitig eine Verdienstmöglichkeit gefunden, um den Lebensunterhalt selbst zu finanzieren.
Materialsparend gebaut entstanden in erstaunlich kurzer Zeit äußerst preisgünstige Wohnungen. Städteplanerisch schuf die Siedlergemeinschaft eine Anlage mit einer ausreichenden Zahl gewerblicher Betriebe, Erwerbsgärtnereien und Heimen für alte und kriegsversehrte Menschen. Viele Einheimische, die dem Projekt zunächst sehr skeptisch gegenübergestanden hatten, bezeugten Respekt vor dieser Leistung.
Die Siedlung Bad Vilbel-Heilsberg erwies sich als ein Modell, das landesweit Nachahmung fand. Auch die katholische Kirche engagierte sich in der Siedlungsfrage. Im Bauorden halfen Freiwillige aus europäischen Ländern beim Straßen- und Häuserbau.
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