19. Die demokratische Neuordnung: Die gesellschaftliche Demokratisierung
Das Ziel der amerikanischen Besatzungspolitik war es nicht allein, Nationalsozialismus und Militarismus auf personeller und institutioneller Ebene ausmerzen. Für die Alliierten insgesamt, insbesondere aber für die Amerikaner mit ihrem demokratischen Sendungsbewusstsein, stand außer Frage, dass über die Entnazifizierung hinaus – als deren positiv akzentuiertes Gegenstück – eine breite Umerziehung des deutschen Volkes stattfinden müsse. Mit der Politik der „Reeducation“ sollte der historisch gewachsene, autoritär verformte „Volkscharakter“ der Deutschen langfristig auf eine neue, demokratische Basis gestellt werden.
Die Reeducation- bzw. Demokratisierungspolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit erstreckte sich auf den gesamten kulturellen Bereich. Ob bei den bildenden und darstellenden Künsten, bei den Medien mit Presse und Rundfunk oder auf dem Bildungs- und Erziehungssektor: weniger direktiv steuernd als vielmehr beratend und fördernd gaben die Amerikaner dem kulturellen Leben in Hessen wichtige Impulse bei der demokratischen Neuausrichtung. Diese kulturpolitischen Initiativen fielen auf deutscher Seite vor allem bei jenen Personen auf fruchtbaren Boden, die während der NS-Diktatur aus politischen oder rassischen Gründen vorfolgt worden waren. Vor allem Politiker aus der SPD und KPD, aber auch solche der neugegründeten CDU wollten es angesichts des Scheiterns der Weimarer Republik nicht mit einer formalen Demokratisierung Deutschlands bewenden lassen, sondern traten für eine soziale Verankerung der Demokratie ein.
Zentrale Bedeutung erlangte die Demokratisierung des Bildungswesens. Nicht erst im Erziehungswesen des Nationalsozialismus, sondern bereits in der preußisch-deutschen Bildungstradition seit dem 19. Jahrhundert sah man die Ursache für den „autoritären Charakter“ der Deutschen und den Aufstieg des Nationalsozialismus. Um bereits den Kindern und Jugendlichen die Demokratie als „Lebensform“ einzupflanzen und damit deren dauerhaften Bestand zu gewährleisten, sollte über die Entnazifizierung der Lehrerschaft und die Beseitigung von Schulbüchern aus der NS-Zeit hinaus eine grundlegende Schulreform stattfinden.
Die Amerikaner konkretisierten ihre anfangs vagen Vorstellungen von einem Neuaufbau des Bildungswesens im Sommer 1946. Ermuntert durch die pädagogischen Vorschläge der Militärregierung, entwickelten die hessischen Politiker bei der Verfassungsgebung 1946 ein modernes, demokratisches Bildungskonzept. Ziel der Erziehung ist bis zum heutigen Tage der „mündige Mensch“, die „sozialgerichtete Persönlichkeit“. Die schulpolitischen Bestimmungen der Landesverfassung sind durchzogen vom Grundsatz der sozialen Chancengleichheit.
Erste wichtige Schritte zur Umsetzung dieser Verfassungsbestimmungen erfolgten dann seit Beginn 1947 unter Kultusminister Erwin Stein (CDU). Mit seinem Namen verbindet sich der Einzug der politischen Bildung in die Schule, ein bis zu diesem Zeitpunkt einzigartiger Vorgang in der deutschen Schulgeschichte. Allerdings scheiterte während seiner Amtszeit bis 1951 die Strukturreform des hessischen Schulwesens. Das Konzept einer demokratischen, sozial durchlässigen Einheitsschule fand innerhalb der Bevölkerung, deren gewählte Vertreter bei der Schulgesetzgebung darüber abzustimmen hatten, wenig Anklang. Angesichts der Not der Zeit sah man vielerorts mit der Abschaffung des traditionellen dreigliedrigen Schulsystems den Bildungsstandard insgesamt gefährdet.
Lebensbild Wolfgang Abendroth
Das in Hessen seit 1945 verfolgte Ziel der Bildungspolitik, die Demokratie sozial in der Bevölkerung zu verankern, ist untrennbar mit der Person Wolfgang Abendroths verbunden. Im November 1950 ernannte die hessische Landesregierung Abendroth zum Professor für wissenschaftliche Politik. Dieses neuartige Fach „Politische Wissenschaften“, für das auch in Darmstadt und Frankfurt Lehrstühle eingerichtet wurden, sollte insbesondere für den Lehrernachwuchs politische Bildung auf akademischem Niveau garantieren.
Als Wolfgang Abendroth sich im Alter von 44 Jahren dieser wichtigen Aufgabe anzunehmen begann, konnte er bereits auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Seine frühe politische Prägung erhielt der am 2. Mai 1906 in Elberfeld/Wuppertal geborene Wolfgang Abendroth durch seine Eltern, die beide überzeugte Sozialdemokraten waren. Schon als Jugendlicher zeigte Abendroth jene moralische Integrität und charakterlich-politische Unbeugsamkeit, die ihn bis zu seinem Tod 1985 auszeichnete. Er schloss sich der proletarischen Jugendbewegung an und wurde zu Beginn der 1920er Jahre Mitglied der KPD. Da er den stalinistischen Kurs der KPD ablehnte, schloss diese ihn aus der Partei aus. Seit 1928 kämpfte der junge Jurist dann in der KP-Opposition für sein politisches Lebensziel: die Einheit der Arbeiterbewegung und die Realisierung einer sozialistischen, freiheitlichen Gesellschaft. Mit großer Energie verfolgte Abendroth diese Absicht nicht allein in der politischen Praxis, sondern schon seit 1926 auch in der politischen Theorie, zu der er bis zu seinem Lebensende über 1000 Schriften beisteuerte.
Gegen den Nationalsozialismus leistete Abendroth seit 1933 in verschiedenen Untergrundorganisationen der Arbeiterbewegung Widerstand, wofür er ab 1937 vier Jahre Zuchthaus verbüßen musste. 1943 wurde Abendroth zur Strafbatallion 999 eingezogen, desertierte in Griechenland und schloss sich dort dem Widerstand der griechischen Partisanen gegen die deutschen Besatzer an.
Bereits während seiner britischen Kriegsgefangenschaft zwischen 1944 und 1946 hatte sich Abendroth der antifaschistischen, demokratischen Umerziehung von Mitgefangenen gewidmet. Diese Lehrtätigkeit setzte er als Staatsrechter in der sowjetischen Besatzungszone fort. 1948 musste Abendroth mit seiner Frau und Tochter in den Westen fliehen. Zunächst übernahm er in Wilhelmshaven eine Professur, ehe er nach Marburg wechselte. Noch über seine Emeritierung 1972 hinaus war er dort das „Haupt“ der legendären „Marburger Schule“ der Politikwissenschaften.
Auch in der praktischen Politik blieb Abendroth nach dem Ende der NS-Diktatur ein streitbarer Geist. Abendroth trat 1946 der SPD bei, kritisierte dann aber mit Vehemenz deren Entwicklung hin zu einer „entideologisierten Volkspartei“ durch das Godesberger Programm. Nach seinem Parteiausschluss 1961 begründete der bekennende Marxist Wolfgang Abendroth den Sozialistischen Bund und wurde zur Symbolfigur der Studentenbewegung. Schon seit den 1950er Jahren war Abendroth einer der wichtigsten Kritiker der Wiederaufrüstung. Später engagierte er sich in der Ostermarsch-, Antinotstands- und Antivietnambewegung.
Die Reeducation- bzw. Demokratisierungspolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit erstreckte sich auf den gesamten kulturellen Bereich. Ob bei den bildenden und darstellenden Künsten, bei den Medien mit Presse und Rundfunk oder auf dem Bildungs- und Erziehungssektor: weniger direktiv steuernd als vielmehr beratend und fördernd gaben die Amerikaner dem kulturellen Leben in Hessen wichtige Impulse bei der demokratischen Neuausrichtung. Diese kulturpolitischen Initiativen fielen auf deutscher Seite vor allem bei jenen Personen auf fruchtbaren Boden, die während der NS-Diktatur aus politischen oder rassischen Gründen vorfolgt worden waren. Vor allem Politiker aus der SPD und KPD, aber auch solche der neugegründeten CDU wollten es angesichts des Scheiterns der Weimarer Republik nicht mit einer formalen Demokratisierung Deutschlands bewenden lassen, sondern traten für eine soziale Verankerung der Demokratie ein.
Zentrale Bedeutung erlangte die Demokratisierung des Bildungswesens. Nicht erst im Erziehungswesen des Nationalsozialismus, sondern bereits in der preußisch-deutschen Bildungstradition seit dem 19. Jahrhundert sah man die Ursache für den „autoritären Charakter“ der Deutschen und den Aufstieg des Nationalsozialismus. Um bereits den Kindern und Jugendlichen die Demokratie als „Lebensform“ einzupflanzen und damit deren dauerhaften Bestand zu gewährleisten, sollte über die Entnazifizierung der Lehrerschaft und die Beseitigung von Schulbüchern aus der NS-Zeit hinaus eine grundlegende Schulreform stattfinden.
Die Amerikaner konkretisierten ihre anfangs vagen Vorstellungen von einem Neuaufbau des Bildungswesens im Sommer 1946. Ermuntert durch die pädagogischen Vorschläge der Militärregierung, entwickelten die hessischen Politiker bei der Verfassungsgebung 1946 ein modernes, demokratisches Bildungskonzept. Ziel der Erziehung ist bis zum heutigen Tage der „mündige Mensch“, die „sozialgerichtete Persönlichkeit“. Die schulpolitischen Bestimmungen der Landesverfassung sind durchzogen vom Grundsatz der sozialen Chancengleichheit.
Erste wichtige Schritte zur Umsetzung dieser Verfassungsbestimmungen erfolgten dann seit Beginn 1947 unter Kultusminister Erwin Stein (CDU). Mit seinem Namen verbindet sich der Einzug der politischen Bildung in die Schule, ein bis zu diesem Zeitpunkt einzigartiger Vorgang in der deutschen Schulgeschichte. Allerdings scheiterte während seiner Amtszeit bis 1951 die Strukturreform des hessischen Schulwesens. Das Konzept einer demokratischen, sozial durchlässigen Einheitsschule fand innerhalb der Bevölkerung, deren gewählte Vertreter bei der Schulgesetzgebung darüber abzustimmen hatten, wenig Anklang. Angesichts der Not der Zeit sah man vielerorts mit der Abschaffung des traditionellen dreigliedrigen Schulsystems den Bildungsstandard insgesamt gefährdet.
Lebensbild Wolfgang Abendroth
Das in Hessen seit 1945 verfolgte Ziel der Bildungspolitik, die Demokratie sozial in der Bevölkerung zu verankern, ist untrennbar mit der Person Wolfgang Abendroths verbunden. Im November 1950 ernannte die hessische Landesregierung Abendroth zum Professor für wissenschaftliche Politik. Dieses neuartige Fach „Politische Wissenschaften“, für das auch in Darmstadt und Frankfurt Lehrstühle eingerichtet wurden, sollte insbesondere für den Lehrernachwuchs politische Bildung auf akademischem Niveau garantieren.
Als Wolfgang Abendroth sich im Alter von 44 Jahren dieser wichtigen Aufgabe anzunehmen begann, konnte er bereits auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Seine frühe politische Prägung erhielt der am 2. Mai 1906 in Elberfeld/Wuppertal geborene Wolfgang Abendroth durch seine Eltern, die beide überzeugte Sozialdemokraten waren. Schon als Jugendlicher zeigte Abendroth jene moralische Integrität und charakterlich-politische Unbeugsamkeit, die ihn bis zu seinem Tod 1985 auszeichnete. Er schloss sich der proletarischen Jugendbewegung an und wurde zu Beginn der 1920er Jahre Mitglied der KPD. Da er den stalinistischen Kurs der KPD ablehnte, schloss diese ihn aus der Partei aus. Seit 1928 kämpfte der junge Jurist dann in der KP-Opposition für sein politisches Lebensziel: die Einheit der Arbeiterbewegung und die Realisierung einer sozialistischen, freiheitlichen Gesellschaft. Mit großer Energie verfolgte Abendroth diese Absicht nicht allein in der politischen Praxis, sondern schon seit 1926 auch in der politischen Theorie, zu der er bis zu seinem Lebensende über 1000 Schriften beisteuerte.
Gegen den Nationalsozialismus leistete Abendroth seit 1933 in verschiedenen Untergrundorganisationen der Arbeiterbewegung Widerstand, wofür er ab 1937 vier Jahre Zuchthaus verbüßen musste. 1943 wurde Abendroth zur Strafbatallion 999 eingezogen, desertierte in Griechenland und schloss sich dort dem Widerstand der griechischen Partisanen gegen die deutschen Besatzer an.
Bereits während seiner britischen Kriegsgefangenschaft zwischen 1944 und 1946 hatte sich Abendroth der antifaschistischen, demokratischen Umerziehung von Mitgefangenen gewidmet. Diese Lehrtätigkeit setzte er als Staatsrechter in der sowjetischen Besatzungszone fort. 1948 musste Abendroth mit seiner Frau und Tochter in den Westen fliehen. Zunächst übernahm er in Wilhelmshaven eine Professur, ehe er nach Marburg wechselte. Noch über seine Emeritierung 1972 hinaus war er dort das „Haupt“ der legendären „Marburger Schule“ der Politikwissenschaften.
Auch in der praktischen Politik blieb Abendroth nach dem Ende der NS-Diktatur ein streitbarer Geist. Abendroth trat 1946 der SPD bei, kritisierte dann aber mit Vehemenz deren Entwicklung hin zu einer „entideologisierten Volkspartei“ durch das Godesberger Programm. Nach seinem Parteiausschluss 1961 begründete der bekennende Marxist Wolfgang Abendroth den Sozialistischen Bund und wurde zur Symbolfigur der Studentenbewegung. Schon seit den 1950er Jahren war Abendroth einer der wichtigsten Kritiker der Wiederaufrüstung. Später engagierte er sich in der Ostermarsch-, Antinotstands- und Antivietnambewegung.
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