16. Die demokratische Neuordnung: Die Befreiung vom Nationalsozialismus und die Entstehung des Landes Hessen
Bereits die Verschwörer selbst hatten vor dem 20. Juli 1944 Sinn und Nutzen eines Umsturzversuches ebenso kritisch wie auch zweifelnd hinterfragt. Nach der erfolgreichen Landung der Westalliierten in der Normandie am 6. Juni 1944 und dem Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte an der Ostfront war der militärische und politische Untergang Deutschlands unausweichlich geworden. Die seit der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 von den Kriegsgegnern geforderte bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches war nicht mehr abzuwenden.
Dennoch war der Umsturzversuch des 20. Juli 1944 mehr als ein moralisches Zeichen des verzweifelten Kampfes gegen die verbrecherische Diktatur in einer ausweglosen Situation. Schon allein die Chance für eine Übergangsregierung Beck/Goerdeler, den längst verlorenen Krieg bereits im Sommer 1944 vorzeitig zu beenden, rechtfertigte das Vorgehen der Verschwörer. Ein rascher Waffenstillstand hätte viele Soldaten vor dem Tod bewahrt, denn allein bei der Wehrmacht waren die Verluste in den Monaten vom August 1944 bis zur Kapitulation am 8. Mai 1945 höher als in den vorigen Kriegsjahren zusammen. Der nationalsozialistische Völkermord, dem bis zum Ende des Krieges rund 6 Millionen Juden und mehr als 250.000 Sinti und Roma zum Opfer fielen, hätte endlich gestoppt werden können. Auch wäre an der deutschen „Heimatfront“ zahlreichen Städten das Schicksal der Zerstörung im Zuge des Bombenkrieges erspart geblieben.
Nach dem 20. Juli 1944 ging der „totale“ Krieg, wie ihn Reichspropagandaminister Joseph Goebbels bei seiner berühmt-berüchtigten Rede im Berliner Sportpalast vom 18. Februar 1943 proklamiert hatte, mit unverminderter Härte weiter. Das Scheitern des Umsturzversuches und die Reaktionen des NS-Regimes führten sogar noch zu einer vorübergehenden Stabilisierung des Systems. Dem Widerstand fehlte die breite Massenbasis. Insgesamt umfassten alle Widerstandsgruppen wohl nicht mehr als 1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Obgleich das NS-Regime Deutschland in eine beispiellose politische und moralische Katastrophe geführt hatte, lehnten noch bis weit in die Nachkriegszeit hinein die meisten Deutschen den „Aufstand des Gewissens“ vom 20. Juli 1944 als „Verrat“ ab.
Erst die Eroberung Deutschlands durch die alliierten Streitkräfte bereitete nicht nur dem NS-Regime ein Ende, sondern schuf auch die Voraussetzung für einen demokratischen Neubeginn. Nach dem Zusammenbruch des NS-Staates, den die meisten Deutschen weniger als Befreiung denn als Niederlage empfanden, übernahmen die Siegermächte die oberste Staatsgewalt und teilten das Land in vier Besatzungszonen ein. Innerhalb ihrer Zonen bildeten die Besatzungsmächte noch 1945 Länder, zum Teil unter Beibehaltung der historischen Ländergrenzen, und begannen allmählich mit der Demokratisierung des politischen Lebens.
Auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen endete der Zweite Weltkrieg Ende März/Anfang April 1945. Am 23. März überschritten amerikanische Militärverbände den Rhein bei Oppenheim; am 4. April hatten sie Kassel erreicht. Die Amerikaner, die als Sitz für die Militärverwaltung ihrer Zone das Frankfurter IG-Farben-Hochhaus wählten, befreiten die Opfer der NS-Diktatur aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern sowie aus der Zwangsarbeit. Zugleich begann die Besatzungsmacht mit der Entnazifizierung. In ihrem Selbstverständnis kamen die Amerikaner nicht als Befreier vom Joch des Nationalsozialismus. Sie sahen in den Deutschen jenes Volk, das den Zweiten Weltkrieg ausgelöst und den Völkermord zu verantworten sowie einem verbrecherischen Regime bis zum Ende die Treue gehalten hatte. Alle NS-Organisationen, bislang das Korsett der totalitären Gesellschaft, wurden verboten. Im Zuge einer ersten politischen Säuberungswelle wurden NS-Funktionäre und andere Stützen der Diktatur in Gefängnissen oder Internierungslagern inhaftiert, 100.000 Personen bis Ende 1945 in der gesamten US-Zone.
Um die lebensnotwendige Versorgung der Bevölkerung in dem zerstörten Land zu gewährleisten – die hessischen Großstädte glichen einer Trümmerlandschaft; die Infrastruktur war vielerorts zusammengebrochen –, begannen die örtlichen Militärverwaltungseinheiten noch in der „Stunde Null“ damit, die deutsche Verwaltung wieder zu reaktivieren. Zu Bürgermeistern, Landräten, Regierungspräsidenten und leitenden Verwaltungsbeamten wurden nun tunlichst Personen ernannt, die in Opposition zum NS-Regime standen oder gar dem Widerstand angehört hatten. Jedoch konnte allein mit diesem von der NS-Vergangenheit unbelasteten Personenkreis die Lücke nicht aufgefüllt werden, die bei der Entnazifizierung mit der Entlassung von 57 Prozent der Beamten aus dem öffentlichen Dienst entstanden war. Aufgrund der personellen Engpässe konnten die ersten Amtsgerichte erst im Sommer 1945, die Schulen im Herbst desselben Jahres wieder eröffnet werden. Unterstützt wurde die öffentliche Verwaltung in den größeren Städten wie Frankfurt während dieser Umbruchsphase unmittelbar nach der militärischen Besetzung durch Antifaschistische Ausschüsse. Sie setzten sich zumeist aus Gegnern des NS-Regimes zusammen und übernahmen nach dessen Zusammenbruch unmittelbar vor Ort Selbstverwaltungsfunktionen.
Im Sommer 1945 schritten die Amerikaner allmählich zur Bildung von Ländern, nicht nur um die Effektivität der Verwaltung zu erhöhen, sondern auch um die Demokratisierung in ihrer Zone voranzubringen. Gemeinsam mit Bayern und Württemberg-Baden wurde am 19. September 1945 das Land „Groß-Hessen“ proklamiert. Groß-Hessen umfasste im wesentlichen die Verwaltungsgebiete des Volksstaates Hessen(-Darmstadt) und der preußischen Provinz Hessen-Nassau mit ihren Regierungsbezirken Kassel und Wiesbaden. Zur Hauptstadt des neuen Landes erklärte die Militärregierung am 12. Oktober 1945 Wiesbaden, die mit 33 Prozent am wenigsten zerstörte Großstadt Hessens. Solange ein demokratisch legitimiertes Parlament noch fehlte, übertrug die Besatzungsmacht der von einem Ministerpräsidenten geführten Regierung die gesetzgebende, richterliche und vollziehende Gewalt. Zum ersten Ministerpräsidenten ernannten die Militärmachthaber den parteilosen Professor Karl Geiler, der gut einen Monat nach der Proklamation Groß-Hessens seine Regierungsarbeit aufnahm.
Dennoch war der Umsturzversuch des 20. Juli 1944 mehr als ein moralisches Zeichen des verzweifelten Kampfes gegen die verbrecherische Diktatur in einer ausweglosen Situation. Schon allein die Chance für eine Übergangsregierung Beck/Goerdeler, den längst verlorenen Krieg bereits im Sommer 1944 vorzeitig zu beenden, rechtfertigte das Vorgehen der Verschwörer. Ein rascher Waffenstillstand hätte viele Soldaten vor dem Tod bewahrt, denn allein bei der Wehrmacht waren die Verluste in den Monaten vom August 1944 bis zur Kapitulation am 8. Mai 1945 höher als in den vorigen Kriegsjahren zusammen. Der nationalsozialistische Völkermord, dem bis zum Ende des Krieges rund 6 Millionen Juden und mehr als 250.000 Sinti und Roma zum Opfer fielen, hätte endlich gestoppt werden können. Auch wäre an der deutschen „Heimatfront“ zahlreichen Städten das Schicksal der Zerstörung im Zuge des Bombenkrieges erspart geblieben.
Nach dem 20. Juli 1944 ging der „totale“ Krieg, wie ihn Reichspropagandaminister Joseph Goebbels bei seiner berühmt-berüchtigten Rede im Berliner Sportpalast vom 18. Februar 1943 proklamiert hatte, mit unverminderter Härte weiter. Das Scheitern des Umsturzversuches und die Reaktionen des NS-Regimes führten sogar noch zu einer vorübergehenden Stabilisierung des Systems. Dem Widerstand fehlte die breite Massenbasis. Insgesamt umfassten alle Widerstandsgruppen wohl nicht mehr als 1 Prozent der Gesamtbevölkerung. Obgleich das NS-Regime Deutschland in eine beispiellose politische und moralische Katastrophe geführt hatte, lehnten noch bis weit in die Nachkriegszeit hinein die meisten Deutschen den „Aufstand des Gewissens“ vom 20. Juli 1944 als „Verrat“ ab.
Erst die Eroberung Deutschlands durch die alliierten Streitkräfte bereitete nicht nur dem NS-Regime ein Ende, sondern schuf auch die Voraussetzung für einen demokratischen Neubeginn. Nach dem Zusammenbruch des NS-Staates, den die meisten Deutschen weniger als Befreiung denn als Niederlage empfanden, übernahmen die Siegermächte die oberste Staatsgewalt und teilten das Land in vier Besatzungszonen ein. Innerhalb ihrer Zonen bildeten die Besatzungsmächte noch 1945 Länder, zum Teil unter Beibehaltung der historischen Ländergrenzen, und begannen allmählich mit der Demokratisierung des politischen Lebens.
Auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen endete der Zweite Weltkrieg Ende März/Anfang April 1945. Am 23. März überschritten amerikanische Militärverbände den Rhein bei Oppenheim; am 4. April hatten sie Kassel erreicht. Die Amerikaner, die als Sitz für die Militärverwaltung ihrer Zone das Frankfurter IG-Farben-Hochhaus wählten, befreiten die Opfer der NS-Diktatur aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern sowie aus der Zwangsarbeit. Zugleich begann die Besatzungsmacht mit der Entnazifizierung. In ihrem Selbstverständnis kamen die Amerikaner nicht als Befreier vom Joch des Nationalsozialismus. Sie sahen in den Deutschen jenes Volk, das den Zweiten Weltkrieg ausgelöst und den Völkermord zu verantworten sowie einem verbrecherischen Regime bis zum Ende die Treue gehalten hatte. Alle NS-Organisationen, bislang das Korsett der totalitären Gesellschaft, wurden verboten. Im Zuge einer ersten politischen Säuberungswelle wurden NS-Funktionäre und andere Stützen der Diktatur in Gefängnissen oder Internierungslagern inhaftiert, 100.000 Personen bis Ende 1945 in der gesamten US-Zone.
Um die lebensnotwendige Versorgung der Bevölkerung in dem zerstörten Land zu gewährleisten – die hessischen Großstädte glichen einer Trümmerlandschaft; die Infrastruktur war vielerorts zusammengebrochen –, begannen die örtlichen Militärverwaltungseinheiten noch in der „Stunde Null“ damit, die deutsche Verwaltung wieder zu reaktivieren. Zu Bürgermeistern, Landräten, Regierungspräsidenten und leitenden Verwaltungsbeamten wurden nun tunlichst Personen ernannt, die in Opposition zum NS-Regime standen oder gar dem Widerstand angehört hatten. Jedoch konnte allein mit diesem von der NS-Vergangenheit unbelasteten Personenkreis die Lücke nicht aufgefüllt werden, die bei der Entnazifizierung mit der Entlassung von 57 Prozent der Beamten aus dem öffentlichen Dienst entstanden war. Aufgrund der personellen Engpässe konnten die ersten Amtsgerichte erst im Sommer 1945, die Schulen im Herbst desselben Jahres wieder eröffnet werden. Unterstützt wurde die öffentliche Verwaltung in den größeren Städten wie Frankfurt während dieser Umbruchsphase unmittelbar nach der militärischen Besetzung durch Antifaschistische Ausschüsse. Sie setzten sich zumeist aus Gegnern des NS-Regimes zusammen und übernahmen nach dessen Zusammenbruch unmittelbar vor Ort Selbstverwaltungsfunktionen.
Im Sommer 1945 schritten die Amerikaner allmählich zur Bildung von Ländern, nicht nur um die Effektivität der Verwaltung zu erhöhen, sondern auch um die Demokratisierung in ihrer Zone voranzubringen. Gemeinsam mit Bayern und Württemberg-Baden wurde am 19. September 1945 das Land „Groß-Hessen“ proklamiert. Groß-Hessen umfasste im wesentlichen die Verwaltungsgebiete des Volksstaates Hessen(-Darmstadt) und der preußischen Provinz Hessen-Nassau mit ihren Regierungsbezirken Kassel und Wiesbaden. Zur Hauptstadt des neuen Landes erklärte die Militärregierung am 12. Oktober 1945 Wiesbaden, die mit 33 Prozent am wenigsten zerstörte Großstadt Hessens. Solange ein demokratisch legitimiertes Parlament noch fehlte, übertrug die Besatzungsmacht der von einem Ministerpräsidenten geführten Regierung die gesetzgebende, richterliche und vollziehende Gewalt. Zum ersten Ministerpräsidenten ernannten die Militärmachthaber den parteilosen Professor Karl Geiler, der gut einen Monat nach der Proklamation Groß-Hessens seine Regierungsarbeit aufnahm.
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