15. Die Verfolgung des Widerstands: Carl-Heinrich von Stülpnagel
Die wohl schillerndste Figur im militärischen Widerstand war Carl Heinrich von Stülpnagel. Er entstammte altem preußischen Offiziersadel. Bis in das späte Mittelalter lassen sich Vorfahren Stülpnagels nachweisen, die für ihren Lehnsherrn in den Krieg gezogen sind. Auch sein Vater war Soldat in preußischen Diensten. Geboren wurde Carl Heinrich von Stülpnagel als zweiter Sohn der Familie am 2. Januar 1886 in Berlin. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in der vormaligen Reichsstadt Frankfurt, die 1867 an Preußen gefallen war, und wo sein Vater Carl Friedrich Hermann Stülpnagel seit 1889 die herausgehobene Stellung des Stadtkommandanten innehatte. Die ungewöhnlich großen intellektuell-geistigen Fähigkeiten, die Stülpnagel oftmals bescheinigt wurden, offenbarten sich bereits am Frankfurter Lessing-Gymnasium, das er 1904 als Klassenprimus verließ. Wohl auch aus familiärem Traditionsbewusstsein heraus schlug Stülpnagel nicht die naturwissenschaftliche Laufbahn ein, sondern entschied sich, Offizier zu werden. Tapferkeit und Intellekt gleichermaßen waren im Ersten Weltkrieg ausschlaggebend für Stülpnagels Aufstieg zum Hauptmann.
Seine Teilnahme am Kapp-Putsch 1920 deutet auf die Ablehnung der innenpolitisch zerrissenen und außenpolitisch „schwachen“ Weimarer Republik hin, stand aber seiner Übernahme in die Reichswehr im selben Jahr nicht im Wege. Noch 1930 zum Oberstleutnant befördert, begrüßte Stülpnagel wie das Gros der Reichswehroffiziere den Untergang der parlamentarischen Demokratie und die Errichtung der NS-Diktatur. Ohne sich selbst nachhaltig für die NS-Ideologie begeistern zu können – sie war dem philosophisch wie auch naturwissenschaftlich hochgebildeten Stülpnagel zu vulgär und vereinfachend –, begrüßte er doch zunächst Hitlers Außenpolitik, die auf die Überwindung des Versailler Vertrages ausgerichtet war.
Doch eben aufgrund dieser Außenpolitik setzte bei Stülpnagel die Entfremdung zum NS-Regime ein. Er begrüßte prinzipiell die Stärkung des Militärs und profitierte selbst davon mit seinem zügigen Aufstieg zum Generalmajor 1935 und schließlich bis in die Spitze des Generalstabs mit seiner Ernennung zum Oberquartiermeister 1938. Missbehagen bereitete ihm die Geschwindigkeit, gar Hektik, mit der die neue Regierung bei der Aufrüstung ans Werk ging. Die Teilidentität der politischen Ziele, die das Bündnis zwischen Militär und Nationalsozialismus die ersten Jahre über erfolgreich getragen hatte, begann auf dem Sektor der Außenpolitik zu zerbrechen.
Spätestens während der „Sudetenkrise“ 1938 gelangte Stülpnagel zu der Ansicht, dass die Wehrmacht nun das gefährliche Werkzeug in der Hand eines unberechenbaren „Verrückten“ war. So zählte Stülpnagel bereits vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zum inneren Kreis der militärischen Opposition. Vor allem mit jenen älteren Offizieren wie Beck und Olbricht, die ihre militärische Karriere bereits vor dem Ersten Weltkrieg begonnen hatten und einen ähnlich weiten Bildungshorizont besaßen wie er, stand Stülpnagel bereits seit den frühen dreißiger Jahren in enger Verbindung.
Diese latente, innere Oppositionshaltung hinderte Stülpnagel allerdings nicht daran, seine Dienstpflichten als preußischer Offizier auch in Zeiten des nationalsozialistischen „Rassenvernichtungskrieges“ getreu zu erfüllen. Stülpnagel war wie kaum ein anderer Widerstandskämpfer aus den Reihen der Wehrmacht in den Judenmord an bzw. hinter der Ostfront verwickelt. Der nicht allein bei der Militäropposition, sondern bei der Oberschicht insgesamt anzutreffende konservative Antisemitismus der Kaiserzeit, von dem auch ein Goerdeler nicht frei war, verband sich bei Stülpnagel mit dem zeittypischen Antibolschewismus und der fatalen Gleichsetzung von Judentum und Bolschewismus.
Aus dieser Geisteshaltung heraus unterstützte Stülpnagel als Oberbefehlshaber der 17. Armee im Bereich der Heeresgruppe Süd an der Ostfront während des Sommers 1941 die SS-Einsatzgruppen bei der systematischen Judenvernichtung als folgenschwerer Einstieg in den Genozid an den Juden. Unter dem Deckmantel der „Partisanenbekämpfung“ ließ Stülpnagel mit Vorliebe „jüdische Komsomolzen“ exekutieren. In den von seiner Armee besetzten Gebieten forderte er eine „nachdrückliche Aufklärung über das Judentum unter der [nicht jüdischen] Bevölkerung“. Wenn die Einheimischen daraufhin ihrem blinden, antisemitischen Hass durch Pogrome gegen die jüdische Minderheit Luft machten, schaute die Armeeführung unter Stülpnagel bewusst über diese Verbrechen hinweg. In Einklang mit der NS-Ideologie und deren Auffassung vom „jüdischen Bolschewismus“ standen auch Befehle, die Stülpnagel in seiner neuen Stellung als Militärbefehlshaber im besetzten Frankreich 1942 erließ. So sollten als Vergeltung für Anschläge der Résistance pauschal eine größere Anzahl von „Juden und Kommunisten“ erschossen bzw. „in den Osten“ deportiert werden – was einem Todesurteil gleichkam.
Dieser ideologischen Nähe Stülpnagels zum Nationalsozialismus stand eine wachsende Gegnerschaft zum Regime gegenüber. Um die Person des Militärbefehlshabers im besetzten Frankreich als Zentrum entwickelte sich seit 1942 eine „Widerstandsbewegung West“, die außenpolitisch und militärisch begründet war und auf einen Separatfrieden mit den westlichen Alliierten hoffte. Wichtige Kontakte zur militärischen Opposition in Berlin stellte Cäsar von Hofacker her, seit Herbst 1943 Mitarbeiter in Stülpnagels Pariser Stab und verwandtschaftlich verbunden mit Stauffenberg. In die Pläne der Verschwörergruppe um Beck, Olbricht und Stauffenberg war Stülpnagel frühzeitig eingeweiht.
Als dann am 20. Juli 1944 aus Berlin das Signal für den Staatsstreich kam, hatten Stülpnagel und Hofacker ihre Vorbereitungen zur Durchführung der „Walküre“-Pläne längst abgeschlossen. An keinem anderen Ort verlief die Operation so erfolgreich wie unter der Regie von Stülpnagel in Paris, wo mit einem gezielten, massiven Schlag der Wehrmacht SS, SD und Gestapo ausgeschaltet wurden. Doch als der Oberbefehlshaber für die Westfront, Generalfeldmarschall Günther von Kluge, sich der Verschwörung verweigerte, nachdem Hitlers Überleben öffentlich geworden war, brach auch in Frankreich der Umsturzversuch in sich zusammen.
Stülpnagel hatte alles riskiert und alles verloren. Sein Schicksal vorausahnend, versuchte er sich am Tag nach dem Attentat in der Nähe von Verdun das Leben zu nehmen. Stülpnagel überlebte und wurde, schwer verletzt und erblindet, von der Gestapo verhaftet. Der Volksgerichtshof verurteilte ihn am 30. August 1944 zum Tode; die Hinrichtung erfolgte noch am selben Tag.
Seine Teilnahme am Kapp-Putsch 1920 deutet auf die Ablehnung der innenpolitisch zerrissenen und außenpolitisch „schwachen“ Weimarer Republik hin, stand aber seiner Übernahme in die Reichswehr im selben Jahr nicht im Wege. Noch 1930 zum Oberstleutnant befördert, begrüßte Stülpnagel wie das Gros der Reichswehroffiziere den Untergang der parlamentarischen Demokratie und die Errichtung der NS-Diktatur. Ohne sich selbst nachhaltig für die NS-Ideologie begeistern zu können – sie war dem philosophisch wie auch naturwissenschaftlich hochgebildeten Stülpnagel zu vulgär und vereinfachend –, begrüßte er doch zunächst Hitlers Außenpolitik, die auf die Überwindung des Versailler Vertrages ausgerichtet war.
Doch eben aufgrund dieser Außenpolitik setzte bei Stülpnagel die Entfremdung zum NS-Regime ein. Er begrüßte prinzipiell die Stärkung des Militärs und profitierte selbst davon mit seinem zügigen Aufstieg zum Generalmajor 1935 und schließlich bis in die Spitze des Generalstabs mit seiner Ernennung zum Oberquartiermeister 1938. Missbehagen bereitete ihm die Geschwindigkeit, gar Hektik, mit der die neue Regierung bei der Aufrüstung ans Werk ging. Die Teilidentität der politischen Ziele, die das Bündnis zwischen Militär und Nationalsozialismus die ersten Jahre über erfolgreich getragen hatte, begann auf dem Sektor der Außenpolitik zu zerbrechen.
Spätestens während der „Sudetenkrise“ 1938 gelangte Stülpnagel zu der Ansicht, dass die Wehrmacht nun das gefährliche Werkzeug in der Hand eines unberechenbaren „Verrückten“ war. So zählte Stülpnagel bereits vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zum inneren Kreis der militärischen Opposition. Vor allem mit jenen älteren Offizieren wie Beck und Olbricht, die ihre militärische Karriere bereits vor dem Ersten Weltkrieg begonnen hatten und einen ähnlich weiten Bildungshorizont besaßen wie er, stand Stülpnagel bereits seit den frühen dreißiger Jahren in enger Verbindung.
Diese latente, innere Oppositionshaltung hinderte Stülpnagel allerdings nicht daran, seine Dienstpflichten als preußischer Offizier auch in Zeiten des nationalsozialistischen „Rassenvernichtungskrieges“ getreu zu erfüllen. Stülpnagel war wie kaum ein anderer Widerstandskämpfer aus den Reihen der Wehrmacht in den Judenmord an bzw. hinter der Ostfront verwickelt. Der nicht allein bei der Militäropposition, sondern bei der Oberschicht insgesamt anzutreffende konservative Antisemitismus der Kaiserzeit, von dem auch ein Goerdeler nicht frei war, verband sich bei Stülpnagel mit dem zeittypischen Antibolschewismus und der fatalen Gleichsetzung von Judentum und Bolschewismus.
Aus dieser Geisteshaltung heraus unterstützte Stülpnagel als Oberbefehlshaber der 17. Armee im Bereich der Heeresgruppe Süd an der Ostfront während des Sommers 1941 die SS-Einsatzgruppen bei der systematischen Judenvernichtung als folgenschwerer Einstieg in den Genozid an den Juden. Unter dem Deckmantel der „Partisanenbekämpfung“ ließ Stülpnagel mit Vorliebe „jüdische Komsomolzen“ exekutieren. In den von seiner Armee besetzten Gebieten forderte er eine „nachdrückliche Aufklärung über das Judentum unter der [nicht jüdischen] Bevölkerung“. Wenn die Einheimischen daraufhin ihrem blinden, antisemitischen Hass durch Pogrome gegen die jüdische Minderheit Luft machten, schaute die Armeeführung unter Stülpnagel bewusst über diese Verbrechen hinweg. In Einklang mit der NS-Ideologie und deren Auffassung vom „jüdischen Bolschewismus“ standen auch Befehle, die Stülpnagel in seiner neuen Stellung als Militärbefehlshaber im besetzten Frankreich 1942 erließ. So sollten als Vergeltung für Anschläge der Résistance pauschal eine größere Anzahl von „Juden und Kommunisten“ erschossen bzw. „in den Osten“ deportiert werden – was einem Todesurteil gleichkam.
Dieser ideologischen Nähe Stülpnagels zum Nationalsozialismus stand eine wachsende Gegnerschaft zum Regime gegenüber. Um die Person des Militärbefehlshabers im besetzten Frankreich als Zentrum entwickelte sich seit 1942 eine „Widerstandsbewegung West“, die außenpolitisch und militärisch begründet war und auf einen Separatfrieden mit den westlichen Alliierten hoffte. Wichtige Kontakte zur militärischen Opposition in Berlin stellte Cäsar von Hofacker her, seit Herbst 1943 Mitarbeiter in Stülpnagels Pariser Stab und verwandtschaftlich verbunden mit Stauffenberg. In die Pläne der Verschwörergruppe um Beck, Olbricht und Stauffenberg war Stülpnagel frühzeitig eingeweiht.
Als dann am 20. Juli 1944 aus Berlin das Signal für den Staatsstreich kam, hatten Stülpnagel und Hofacker ihre Vorbereitungen zur Durchführung der „Walküre“-Pläne längst abgeschlossen. An keinem anderen Ort verlief die Operation so erfolgreich wie unter der Regie von Stülpnagel in Paris, wo mit einem gezielten, massiven Schlag der Wehrmacht SS, SD und Gestapo ausgeschaltet wurden. Doch als der Oberbefehlshaber für die Westfront, Generalfeldmarschall Günther von Kluge, sich der Verschwörung verweigerte, nachdem Hitlers Überleben öffentlich geworden war, brach auch in Frankreich der Umsturzversuch in sich zusammen.
Stülpnagel hatte alles riskiert und alles verloren. Sein Schicksal vorausahnend, versuchte er sich am Tag nach dem Attentat in der Nähe von Verdun das Leben zu nehmen. Stülpnagel überlebte und wurde, schwer verletzt und erblindet, von der Gestapo verhaftet. Der Volksgerichtshof verurteilte ihn am 30. August 1944 zum Tode; die Hinrichtung erfolgte noch am selben Tag.
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