4. Leben in der Stadt: Verfassungsgeschichte und Stadtverwaltung
Erläuterungen:
Da es im Mittealter keinen institutionalisierten Flächenstaat gab, also kein einheitliches staatliches Gebiet, in dem für alle Bürger überall die gleichen Rechte und Pflichten so wie in der Bundesrepublik Deutschland heute galten, verlieh der jeweilige Landesherr den Städten in seinem Einflussgebiet eine Art Verfassung, das sog. Stadtrecht. Das Stadtrecht spiegelt die jeweiligen aktuellen politischen und wirtschaftlichen Begebenheiten und Anforderungen wider und ist daher auch immer wieder Veränderungen unterworfen. Z. B. dann, wenn es einen neuen Stadtherren gab oder sich das Mächtegefüge innerhalb der Stadt veränderte, da eine Gruppe mehr Einflussmöglichkeiten für sich beanspruchte, was nicht selten auch mit z.T. gewaltsamen Auseinandersetzungen vonstattenging.
Im 12. und 13. Jahrhundert entstanden viele neue Städte; um Marburgs Bedeutung zu erhalten und auszubauen, brauchte die junge Stadt viele Ansiedler. So ließen die Stadtherren besondere Rechte zu, um das Wohnen in Marburg "attraktiv" zu machen. Z. B. zeigt das Stadtrecht - rechtliche Gleichheit ohne Ansehen der Person - fortschrittliche Elemente im Gegensatz zum Landrecht, das auf persönlichen und ständischen Grundlagen urteilt.
Die erste erhaltene Stadtrechtsurkunde Marburgs ist die von Bischof Ludwig von Münster. Er verfasste sie 1311. Ludwig erhielt Burg und Stadt von Landgraf Otto I., seinem Bruder, der ihn mit beidem versorgen wollte.
In der Urkunde hält er u.a. fest, welche Pflichten „unsere lieben und getreuen Bürger von Marburg“ sowie die Bewohner Weidenhausens, des Pilgrimsteins und der Neustadt haben. Außerdem spricht er von „Schöffen“ und „Ratsmänner[n]“: Die Schöffen wurden vom Landgrafen aus den wohlhabendsten Familien der Stadt ausgewählt, z. B. aus den Familien der reichen Wollweber und Kaufleute; sie erhielten ihr Amt auf Lebenszeit. Insgesamt gab es 12 Schöffen. Sie wurden stets nur aus eigenen Reihen ersetzt (sog. Kooptation), sodass Bürger, die dieser Schicht nicht angehörten, keine Chance auf Mitgestaltung der Stadt hatten. Ihr direkter Vorgesetzter war der Schultheiß, der vom Stadtherren, also dem Landgrafen, ausgewählt wurde. In seinem Auftrag hatte er für die „Wahrung der stadtherrlichen Interessen“ Sorge zu tragen. Gleichzeitig saß er auch dem Stadtgericht vor, das aus den 12 Schöffen bestand. Die Schultheißen entstammten in der Regel dem Ritterstand oder der Burgmannschaft.
Der Rat bestand aus sechs Männern der Gemeinde, vier stammten aus Weidenhausen, zwei aus der Neustadt. Sie wurden von den Schöffen gewählt, was bedeutete, dass sich die Schöffen solche Männer aussuchten, die in ihrem Sinne agieren würden. Der Rat sollte einen Ausgleich zwischen den einzelnen Gruppierungen in der Stadt schaffen. Das Amt des Ratsmanns hatte man i.d.R. nur für 1 Jahr. Das sicherte, dass unliebsame Ratsmänner so schnell wieder entlassen werden konnten. Ihre Aufgaben: Rat und Schöffen bestimmten gemeinsam Regeln zur „inneren Ordnung der Stadt“.
Aber auch die Stadt selbst hatte spätestens ab dem 13. Jahrhundert einen Vertreter; dieser symbolisierte die sich entwickelnde Selbstständigkeit der Marburger Bürgerschaft. Sichtbar wird dies in der Tatsache, dass der Bürgermeister (meist gab es zwei) nicht wie der Schultheiß vom Landgrafen ernannt, sondern von den Bürgern gewählt wurde – allerdings aus den Reihen der Schöffen. Die Verwaltung der Stadt übernahm er aber im Laufe der Jahre immer mehr vom Schultheißen, der ursprünglich dessen Leiter war.
Das Stadtrecht von 1428 zeigt, dass die Beteiligung der Zünfte und der Gemeinde an den Geschicken der Stadt verstärkt wurde – und zwar durch Einführung der Vier, als einem Organ der Stadtverfassung. Ihre Aufgaben: Sie durften an der Prüfung der Stadtrechnungen sowie an Erlassen zur „inneren Ordnung der Stadt“ teilhaben. Zudem sollten die Ratsmänner nun lebenslänglich eingesetzt werden; starb einer, wurde sein Amt nicht mehr besetzt. Starb hingegen ein Schöffe, sollte nun ein Ratsmann nachrücken. Dieses Verfahren bedeutete allerdings die allmähliche Abschaffung des Rats. Das Stadtrecht demonstriert aber auch eine finanzielle Autonomie Marburgs gegenüber dem Landgrafen (siehe z. B. Artikel 5.). Dabei hilft ihr der Umstand, dass sie die Steuern der Bürger einzog und nicht die Beamten des Landgrafen selbst. Artikel 2. zeigt, dass es offensichtlich Beschwerden wegen Vetternwirtschaft gegeben haben muss; um diese einzudämmen, entschied der Landgraf, dass nur noch ein Mitglied aus jeder Familie Schöffe sein sollte.
Die städtischen Ämter, Schöffen, Bürgermeister, Rat, waren ehrenamtlich; selten gab es unwesentliche Entschädigungen und Präsenzgelder wie z. B. gemeinsame Mahlzeiten, Bier- und Weinspenden; d. h., dass sich geeignete Kandidaten die Arbeit leisten können mussten: Z. B. ein Kaufmann mit einem größeren Geschäft, dessen Söhne vielleicht schon mitarbeiten konnten; Handwerksmeister, dessen Gesellen nach dem Rechten schauten; kleinere Wollweber oder Schuhmacher kamen dafür eher nicht infrage.
Patrizier, also begüterte Bürger, behielten so die politische Macht, da die wenigstens Marburger sich auf Dauer von ihren Geschäften verabschieden konnten.
Arbeitsaufträge:
- Halten Sie fest, welche Gruppen es in der Stadt gibt und welche Aufgaben diese jeweils haben.
- Stellen Sie grafisch dar, wie die Gruppen zueinanderstehen.
- Erläutern Sie, was es für die Entwicklung der Stadt bedeutet, dass der Rat von den Schöffen ausgewählt wurde.
- Überlegen Sie, wer als Schöffe oder Ratsmitglied überhaupt infrage kam.
- Recherchieren Sie, wer heute in der Stadt wichtige Entscheidungen trifft.
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