Die Novemberrevolution 1918/19 in Hessen
von Roland Müller
"Arbeiter und Soldaten! Ungeheure Umwälzungen vollziehen sich! (...) Die Abdankung des Kaisers ist stündlich zu erwarten! (...) Wir fordern euch auf, in Waffen zu erscheinen, inzwischen aber eiserne Ruhe zu bewahren und unseren Anordnungen unbedingt Folge zu leisten." So lautete der Aufruf der Vorstände von Sozialdemokratischer Partei (SPD), Unabhängiger Sozialdemokratischer Partei (USPD) und Gewerkschaften zum "Casseler Demonstrationstag" am 9. November 1918, um 2 Uhr mittags auf dem Friedrichsplatz. Das klingt schon nach Revolution, aber auch nach viel Bedacht. Hessen wurde kein Impulsgeber der Revolution, aber ihre Probleme, der Streit innerhalb der Arbeiterbewegung und der Revolutionäre mit den bestehenden Einrichtungen, dies spiegelt sich auch hier.
Das heutige Hessen bestand vor der Revolution im Wesentlichen aus der preußischen Provinz Hessen-Nassau mit den Städten Kassel, Marburg, Hersfeld, Fulda, Frankfurt, Wiesbaden und Hanau sowie dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt, zu dem auch Offenbach, Gießen und der Vogelsberg zählte. Erstere Provinz blieb, was sie war, aus dem Großherzogtum wurde der Volksstaat Hessen. Mit "Volksstaat" ist keine Eigenstaatlichkeit gemeint, der Begriff betont, dass nunmehr an Stelle eines Fürsten das Volk Souverän in diesem Gebiet ist, das Gebiet republikanisch organisiert ist, so wie heute das Land Hessen innerhalb der BRD. Das muss betont werden, weil es tatsächlich Abspaltungsbewegungen innerhalb der von Frankreich besetzten Gebiete gab. In Wiesbaden wurde zweimal (1919 und 1923, jeweils rasch erfolglos) die Rheinische Republik ausgerufen.
Die Machtübernahme der Räte wurde in den meisten hessischen Orten von Außen und ohne von der Waffe Gebrauch zu machen durch herbeigereiste revolutionäre Matrosen angestoßen; in Darmstadt begann sie im ständischen Landtag mit einem Antrag zur Einführung der Republik und in Hanau eskalierte eine Stadtverordnetenversammlung.
Die Räte fungierten als eine Art Aufsichtsorgan, dass sich seine Gestaltungs- und Ordnungsmacht mit den fortbestehenden Staatsorganen teilte: Verwaltung, Polizei, Militär und Gerichte blieben in der Regel auch personell völlig unangetastet. In Hanau, wo der mit USPD-Mehrheit geführte Arbeiter- und Soldatenrat etwas weiter ging, den Landrat in seinen Kompetenzen einschränkte, die Presse übernahm und eine eigene Polizeitruppe aufstellte, wurde er von der Regierung blutig aufgelöst.
Im Dezember 1918 stimmte der Rätekongress seiner Selbstentmachtung zu Gunsten einer parlamentarischen Ordnung zu, allerdings verlangte er neben der verfassungsmäßigen Installierung von Betriebsräten umfangreiche Sozialisierungen. Denn als ursächliche Kriegstreiber wurden die Großagrarier, die Bergwerksbesitzer und die Industrieellen insbesondere der Schwerindustrie betrachtet. Die einen, weil sie sich über eine gewaltsame Aneignung die Mehrung ihres Besitzes versprachen, die anderen weil sie unmittelbar am Krieg verdienten und im Falle des Sieges Konkurrenten ausschalten, ihre bestehenden Monopole also auf einen größeren Markt ausdehnen konnten. Die private Gewinnaneignung als vorherrschende Wirtschaftsweise wurde als eine Kriegsursache identifiziert und zumindest ihre Einhegung verlangt.
Die Weimarer Verfassung widmet der Wirtschaft einen eigenen längeren Abschnitt mit viel Text, aber wenig greifbarem Inhalt. Wie enttäuschend das zeitgenössisch gewirkt haben muss, wird deutlich, wenn man sich dagegen den gleichen Abschnitt in der Hessischen Verfassung von 1946 anschaut. Wieder mussten Konsequenzen aus einem Krieg gezogen werden, und sie sollten in umfangreichen Vergesellschaftungen von Bodenschätzen und Produktionsmitteln bestehen. Sie blieben aus, weil so etwas der Bund zu regeln hat, und bis zum Grundgesetz 1949 war das Zeitfenster für grundsätzlichen Wandel bereits geschlossen. Das Grundgesetz bleibt in seinen Bestimmungen zur Wirtschaft sogar noch weit hinter der Weimarer Verfassung zurück.
Der November-Revolution gelang es, die Monarchie und die Fürstenherrschaft zu beenden sowie die gesetzgebende Gewalt in Form des Parlamentarismus und der Möglichkeit von Volksentscheiden zu demokratisieren (mit der Einführung von Verhältniswahl und Frauenwahlrecht sogar beispielgebend). Die Wirtschaft musste den Acht-Stunden-Tag und die Aussicht auf die Mitsprache von Betriebsräten hinnehmen.
Es gab noch Versuche, die Revolution weiterzutreiben. Zuletzt nach der erfolgreichen Abwehr des Kapp-Putsches 1920. Hessen erlangte dabei nur reaktionär Bekanntheit: Marburger Studenten ermordeten im aufbegehrenden Thüringen 15 Arbeiter. Dieser straflos gebliebenen Niedertracht widmete Kurt Tucholsky sein Gedicht "Marburger Studentenlied".
Die Dokumentenzusammenstellung sowie die Einführungen in die jeweiligen Räume gehen auf die Ausstellung "Revolutionärer Aufbruch 1918/19 in die Demokratie" zurück, die zum 100. Jahrestag der Novemberrevolution in hessischen Staatsarchiven zu sehen war. Einige Dokumente kamen aus einer ergänzenden Ausstellung des Marburger Staatsarchivs hinzu. Die Texte wurden gekürzt und ihre Anordnung wurde verändert. Autoren sind: Dirk Petter (Raum 1, 2, 2a, 2b und 2c), Johann Zilien (Raum 2d und 2e), Klaus-Dieter Rack (Raum 2f), Andreas Hedwig (Raum 3) und Karl Murk (Raum 4 und 5).
Literatur:
Hedwig, Andreas (Hg.): Zeitenwende in Hessen: Revolutionärer Aufbruch 1918/19 in die Demokratie. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung des Hessischen Landesarchivs, Marburg 2019
Mühlhausen, Walter: Hessen in der Weimarer Republik. Politische Geschichte 1918-1933, Wiesbaden 2021
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