Unrechtspflege: Roland Freisler und die hessische Justiz 1926-1941
Eine Kultur, deren Anwälte sich längst unter dem Beifall der
Mehrheit zu Wortführern der Diffamierung und Verneinung all
dessen gemacht hatten, worauf diese Kultur beruhte, vermochte
ihrer eigenen Zerstörung nicht mehr glaubwürdig entgegenzutreten.
Joachim Fest: Das Gesicht des Dritten Reiches
Der Mann, der am späten Abend des 1. Juli 1930 wegen des Verdachts auf Landfriedensbruch und Aufforderung zum Ungehorsam in das Polizeigefängnis von Kassel eingeliefert worden ist, macht am Tag darauf seine Aussage: „Beruf: Rechtsanwalt – Wohnort: Kassel – Wohnung: Hinzpeterstraße 8 – geboren am: 30. Oktober 1893 in Celle – Staatsangehörigkeit: Preuße – Familienstand: zur Zeit verheiratet mit Marion Russegger – Namen der Eltern: Julius F. und Florintine, geb. Schwertfeger – Stand des Vaters: Professor – Vermögensverhältnisse: geregelt.“ Im Vernehmungsbogen steht hinter der Frage, ob die beschuldigte Person bekannt sei, ein handschriftliches „Ja“; die Tabelle unter dem Wort „Strafverzeichnis“ auf der selben Seite ist leer. Unter das daran anschließende Vernehmungsprotokoll hat der Beschuldigte zwei Mal seine Unterschrift gesetzt. Jedes Mal unterschreibt er mit einem violetten Stift als „Dr. jur.“ – so hastig und großformatig, dass seine Unterschrift den Schreibmaschinentext darüber durchstreicht. [1]
Keine 15 Jahre später wird derselbe Mann als Präsident des Volksgerichtshofs mit seiner Unterschrift mehrere Tausend Todesurteile eigenhändig unterzeichnet und gefällt haben. Er wird die Hauptverantwortung tragen für die Hinrichtung der Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944, für die Hinrichtung von Mitgliedern des „Kreisauer Kreises“ und der „Weißen Rose“ – unter ihnen auch die Geschwister Hans und Sophie Scholl. Selbst dafür verantworten musste er sich nicht mehr: Roland Freisler wurde bei einem alliierten Bombenangriff auf Berlin am 3. Februar 1945 von einem Bombensplitter tödlich getroffen. Über den toten Freisler sprach noch das Nürnberger Militärtribunal in seinem Urteil als dem „düstersten, brutalsten und blutigsten Richter der gesamten deutschen Justizverwaltung“ und stellte ihn neben Himmler, Heydrich und Thierack zu jenen, „deren desperate und verabscheuungswürdige Charaktere der Welt bekannt“ seien. Darüber jedoch, wer Roland Freisler war, bevor er am 20. August 1942 zum Präsidenten des Volksgerichtshofs wurde und sich durch sein fanatisches Wirken in diesem Amt als „Inkarnation aller Justizverbrechen des Dritten Reichs“ im kollektiven Geschichtsbewusstsein festsetzen sollte, ist bis heute kaum etwas bekannt. [2]
Diese Ausstellung ermöglicht nun anhand der Aktenüberlieferung aus den Beständen des Staatsarchivs Marburg einen authentischen Blick auf die öffentliche Figur Roland Freisler und dessen Rolle als Rechtsanwalt und Stadtverordneten in Kassel zwischen 1926 und 1933. [3] In welcher dieser Rollen auch immer Freisler dabei in das Blickfeld der Öffentlichkeit rückte, von Anfang an vertrat er in der für ihn typischen, pathologisch anmutenden Rastlosigkeit und Umtriebigkeit die Ideologie des Nationalsozialismus: Seine mitunter stundenlangen Verbaltiraden im Kasseler Stadtparlament, seine beleidigenden persönlichen Angriffe auf politische Gegner und seine hemmungslose nationalsozialistische Agitation gegen die Weimarer Republik brachten ihn mehrmals wegen Beschimpfung, Beleidigung der republikanischen Staatsform, Hausfriedensbruch und Landfriedensbruch auf die Anklagebank des Landgerichts Kassel. [4] Als Rechtsanwalt vertrat Freisler zur selben Zeit überaus öffentlichkeitswirksam Mitglieder der nationalsozialistischen Bewegung in Hessen, die sich zumeist wegen ähnlicher Delikte vor Gericht zu verantworten hatten. [5] Einen in diesem Zusammenhang besonders Prestige trächtigen Fall stellte für Freisler die Vertretung der Witwe Elfriede Messerschmidt in einem Schadensersatzprozess gegen den Preußischen Staat dar: Deren Ehemann, den NSDAP-Stadtverordneten Heinrich Messerschmidt, hatte die nationalsozialistische Bewegung in Kurhessen zum Helden und Märtyrer stilisiert, nachdem er bei Straßenkämpfen zwischen Nationalsozialisten, Kommunisten und Reichsbannerleuten am 18. Juni 1930 in der Kasseler Altstadt durch einen Messerstich tödlich verletzt worden war. [6]
Doch die Ausstellung will nicht nur einen authentischen Blick auf die öffentliche Figur Roland Freisler als einen frühen und und besonders virulenten Vertreter des Nationalsozialismus in Kassel eröffnen, sie will anhand der einschlägigen Aktenüberlieferung auch zwei erklärte Gegner des Nationalsozialismus in Kassel und deren Schicksal nach der „Machtergreifung“ in den Mittelpunkt der historischen Betrachtung stellen. Der Polizeipräsident Dr. Adolf Hohenstein und der Polizei-Oberstleutnant Otto Schulz waren als Sozialdemokraten überzeugte Verteidiger des Weimarer Rechtsstaats und wurden schon aus diesem Grund von Freisler gehasst. Nicht zuletzt auf Initiative der sozialdemokratisch besetzten Polizeiführung von Kassel war Freisler nämlich in den Jahren zwischen 1926 und 1930 mehrmals auf die Anklagebank gebracht und in einigen Fällen auch rechtskräftig verurteilt worden.
Im Zuge der „Machtergreifung“ erschien die bloße Versetzung von Hohenstein und Schulz in den vorzeitigen Ruhestand den neuen Machthaber jedoch nicht als ausreichend: Sie entfernten beide nicht nur aus ihren Ämtern, sondern strengten Dienststrafverfahren gegen die ehemaligen Polizeibeamten an. [7] Mit der Rache der politischen NS-Justiz an Hohenstein und Schulz gingen staatlich gedeckte Willküraktionen einher: Hohensteins Wohnsitz in Boppard am Rhein wurde im Frühjahr 1933 zum Schauplatz einer über Nacht andauernden „Haussuchung“ der „Kasseler SS“, die für Hohenstein lebenswichtige amtliche Dokumente und Wertgegenstände kurzerhand beschlagnahmte. Schulz wurde als „Landesverräter“ öffentlich an den Pranger gestellt und fiel im Februar 1935 einem politisch motivierten gewaltsamen Übergriff zum Opfer, bei dem er schwere Verletzungen davontrug. Das Urteil im Dienststrafverfahren gegen Hohenstein lautete schließlich auf Verlust des Ruhegehalts, Verlust der Hinterbliebenenversorgung und auf Verlust der Amtsbezeichung – seine Existenz war zerstört. Schulz wurde nach zähen Verhandlungen lediglich das Ruhegehalt für die Dauer von fünf Jahren um 20 Prozent gekürzt. Er legte gegen dieses Urteil Berufung ein, doch die Ironie der Geschichte kam ihm zuvor: Ein „Gnadenerlass des Führers für Beamte“ führte im Herbst 1939 – mehr als sechs Jahre nach Prozessbeginn – zur Einstellung des Verfahrens.
Ein zweiter Prozess gegen Hohenstein und Schulz, dessen Anfänge im Frühjahr 1936 gelegen hatten, war zu dieser Zeit freilich noch nicht ausgestanden. [8] Im Zuge der Dienststrafverfahren hatten die zuständigen Gerichte erkannt, dass der gewaltsame Tod des NSDAP-Mitglieds Heinrich Messerschmidt in Folge der Ereignisse vom 18. Juni 1930 auf die „Verletzung der Amtspflicht“ und die „grobe Fahrlässigkeit“ der Angeklagten zurückzuführen sei. Nun versuchte der Preußische Staat in einem zermürbenden, bis 1941 andauernden Rechtsstreit die geleistete Entschädigungszahlung an die Witwe Elfriede Messerschmidt in Höhe von 6000 Reichsmark bei den nunmehr juristisch Verantwortlichen Hohenstein und Schulz einzutreiben. Der Prozess verlief allerdings im Sande: Kläger und Beklagte ließen ihre Ansprüche schließlich fallen. [9]
Der vernichtende Urteilsspruch im Dienststrafverfahren gegen den Polizeipräsidenten a. D. Dr. Adolf Hohenstein versäumte es übrigens nicht, noch einmal das „scharfe Vorgehen gegen den damaligen Rechtsanwalt“ Dr. Roland Freisler zu rügen. Vergleicht man abschließend den damaligen Rechtsanwalt aus Kassel mit dem späteren Präsidenten des Volksgerichtshofs, entsteht das Bild einer bruchlosen biographischen Kontinuität: Nur wenige Karriere-Juristen des Nationalsozialismus gehörten auch zu seinen frühesten ideologischen Verfechtern. Von Roland Freisler – Parteimitgliedsnummer 9679 – kann dies nicht behauptet werden. Freisler war in seinem gesamten Denken und Handeln – ob als Angeklagter, Verteidiger oder Richter – Zeit seines politischen Lebens ein nationalsozialistischer Überzeugungstäter. Gängige historische Erklärungsformeln für eine totalitäre Persönlichkeit, wie die Biographie des „verführten Intellektuellen“ oder die „Banalität des Bösen“, gehen auch deshalb bei Roland Freisler fehl: Er war ein brillanter Jurist – bar jeder Humanität und bar jedes Unrechtsbewusstseins. Sein akribisch betriebener „Neuaufbau der Rechtspflege“ auf dem ideologischen Fundament der nationalsozialistischen Weltanschauung war nichts anderes als die Umdeutung des bisherigen Strafrechts in ein Kampf- und Vernichtungsrecht. Dieses gnadenlose Gesinnungsstrafrecht kleidete Freisler in die ihm eigene liquidatorische Sprache, die an Zynismus und Menschenverachtung kaum zu überbieten war, und Urteilsformulierungen zuließ, die oft schlimmere Beleidigungen darstellten, als die Äußerungen, die dem Urteilsspruch zu Grunde lagen. Dem Juristen Freisler, der intellektuell so hervorragend mit der römischen Rechtstradition vertraut war, dass er einst „summa cum laude“ promoviert hatte, galt diese Tradition nichts. Als Angehöriger der so genannten gebildeten Schichten hatte er sein zu allem verwendbares Talent in den Dienst der nationalsozialistischen Unrechtsmaschinerie gestellt – wohl auch, wie Joachim Fest über die Intellektuellen und den Nationalsozialismus schreibt, „aus Selbsthaß, Zerstörungstrieb oder einfach pointenhungriger Verantwortungslosigkeit“. [10]
[1] Ausstellungsraum 1: Dokument 27.
[2] Müller, Ingo, Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit unserer Justiz, München 1987. S. 157. Vgl. auch Wesel, Uwe, Drei Todesurteile pro Tag. Am 3. Februar 1945 fliegen die Alliierten einen schweren Luftangriff auf Berlin. Eines der Opfer ist Roland Freister, der Präsident des Volksgerichtshofs, in: Die Zeit 6 (03.02.2005). Bisher sind zwei Biographien über Freisler erschienen: Buchheit, Gert, Richter in roter Robe. Freisler: Präsident des Volksgerichtshofs, München 1968; Ortner, Helmut, Der Hinrichter. Roland Freisler – Mörder im Dienste Hitlers, Wien 1993. Buchheits Biographie argumentiert wissenschaftlich fundiert und auf breiter Quellengrundlage, ist jedoch durch die Erkenntnisse der zeitgeschichtliche Forschung in den Folgejahrzehnten in manchen Aspekten überholt oder sogar widerlegt worden. Ortners eher journalistisch abgefasste Biographie über Freisler wendet sich hingegen an eine breitere Leserschaft; gleichwohl hätte dem Buch ein „Quellenverzeichnis“ nicht geschadet, das diesen Namen auch verdient. So wird etwa der Freisler-Biograph Buchheit darin durchgehend als „Buschheit“ aufgeführt. Allgemein fällt auf, dass mehrere Textpassagen von Buchheit sich im beinahe gleichen Wortlaut bei Ortner wiederfinden. Vgl. hierzu vor allem die Fallschilderungen über die Geschwister Scholl und Elfriede Scholz.
[3] Für den lokalhistorischen Kontext sei hier verwiesen auf den instruktiven Aufsatz von Frenz, Wilhelm, Der Aufstieg des Nationalsozialismus in Kassel – 1922 bis 1933, in: Hennig, Eike (Hg.), Hessen unterm Hakenkreuz, Frankfurt/M. 1983. S. 63-106.
[4] Ausstellungsraum 1.
[5] Ausstellungsraum 2.
[6] Ausstellungsraum 3.
[7] Ausstellungsraum 4.
[8] Ausstellungsraum 5.
[9] Für den regionalhistorischen Kontext sei hier noch verwiesen auf die Untersuchung von Form, Wolfgang/ Schiller, Theo (Hgg.), Politische NS-Justiz in Hessen. Die Verfahren des Volksgerichtshofs, der politischen Senate der Oberlandesgerichte Darmstadt und Kassel 1933-1945 sowie Sondergerichtsprozesse in Darmstadt und Frankfurt/M. (1933/34), 2. Bde., Marburg 2005.
[10] Fest, Joachim: Das Gesicht des Dritten Reiches. Profile einer totalitären Herrschaft, München 1964. S. 340.
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