Herausgegeben von Margret Lemberg
Einführung
Am 17.9.1866 wurde im Abgeordnetenhaus in Berlin eine Gesetzesvorlage der preußischen Regierung mit 273 gegen 14 Stimmen angenommen, in der die Annektion von Kurhessen, Hannover, Nassau, Frankfurt und von Teilen des Großherzogtums Hessen verkündet wurde [Dokument 1, 2, 3]. Damit hörte Kurhessen auf, als selbständiger Staat zu existieren.Die preußische Regierung glaubte mit der Einführung des sogenannten Diktaturjahres (1.10.1866 - 1.10.1867) einen möglichen Widerstand leichter niederhalten zu können, doch es gab keine nennenswerte Gegnerschaft gegen Preußen. Das hatte seine Gründe. Die gesamte Geschichte Kurhessens (1803/13-1866) war bestimmt vom Kampf um eine Verfassung. Nach deren Gewährung im Jahre 1831 setzte sich der Streit um ihre Beachtung, besonders nach der Revolution von 1848/49, fort. Als der Kurfürst ab 1850 sich enger an Österreich anlehnte und mit Hilfe des wiederberufenen Ministers Ludwig Hassenpflug einen reaktionären Kurs durchsetzen wollte, verweigerten Gerichte und Behörden den Gehorsam. Der Widerstand wuchs bis zur Steuerverweigerung der Stände und zum Rücktritt nahezu des gesamten hessischen Offizierkorps (241 von 277). Der neu zusammengetretene Bundestag in Frankfurt, an den sich Hassenpflug um Hilfe wandte, schickte ein Bundesheer, die sogenannten "Strafbayern", das die Bevölkerung, besonders die Mitglieder des Landtags, durch Einquartierung zum Gehorsam gegen ihren Herrscher brachte [Dokument 4, 5]. Preußische Truppen, die eingreifen wollten, zogen sich zurück.
Zwar konnte der Kurfürst 1852 eine Verfassung oktroyieren, die diejenige aus dem Jahre 1831 erheblich beschnitt, doch die Auseinandersetzungen zwischen dem Kurfürsten und seiner Regierung auf der einen und den Ständen und der liberalen Partei auf der anderen Seite gingen weiter. Einige der politischen Gegner des Kurfürsten wurden inhaftiert, wenn sie nicht vorher ins Ausland geflohen waren, anderen wurde ein Prozeß gemacht, der sich bis 1855 hinzog. Die Agitation der Liberalen wurde von Preußen geschickt unterstützt. Der vom Kurfürsten als Minister vehement abgelehnte Liberale Oetker kämpfte zudem als Redakteur der "Hessischen Morgenzeitung" in Kassel gegen den Kurfürsten und seine Regierung [Dokument 6]. Auch als 1860 auf Druck Preußens die Verfassung aus dem Jahr 1831 wieder in Kraft gesetzt wurde, war es für einen Ausgleich zu spät.
Kurfürst Friedrich Wilhelm I., der sich auch aus persönlichen Gründen Österreich verbunden fühlte - seine nicht ebenbürtige Frau war vom Kaiser in den Stand einer Fürstin von Hanau und von Horzowitz erhoben worden - entfernte sich immer stärker von der propreußischen Stimmung in weiten Kreisen seines Volkes; so folgte er auch nicht den kurhessischen Ständen und dem Rat seiner Minister, als diese am 14. Juni 1866 die Mobilmachung ablehnten und den Anschluß an Preußen unter weitgehender Beibehaltung der kurhessischen Selbständigkeit forderten.
Der Kurfürst beharrte auf der Mobilmachung, lehnte wiederholte preußische Bündnisangebote ab und wurde nach dem Einmarsch der preußischen Truppen am 23. Juni 1866 als Gefangener nach Stettin gebracht [Dokument 7, 8]. Im Herbst des Jahres wählte er Prag zu seinem Exil. Die hessischen Nebenlinien, die nach und nach die Annexion durch Preußen anerkannten, wurden mit Renten abgefunden und erhielten Schlösser in Hanau und Fulda.
Während und nach dem Diktaturjahr ergoß sich eine Fülle von preußischen Gesetzen auf das ehemalige Kurhessen: die sogenannte "Wolkenbruchgesetzgebung", mit der längst überfällige Reformen nachgeholt wurden [Dokument 9, 10, 11] und vor allem eine Neuordnung der Verwaltung einherging: Die neue Provinz Hessen-Nassau wurde in die Regierungsbezirke Kassel und Wiesbaden eingeteilt [siehe Dokument 1]. Jede Bezirksregierung war in drei Abteilungen gegliedert: die des Innern, des Kirch- und Schulwesens und in die für direkte Steuern, Domänen und Forsten. Die beiden Regierungsbezirke waren in Landkreise unter einem Landrat und in Stadtkreise unter einem Polizeipräsidenten oder Polizeidirektor eingeteilt. Ein Oberpräsident mit Sitz in Kassel stand an der Spitze der Provinz; es war in den ersten Jahren der besonders fähige und taktvolle Eduard von Moeller. Im Jahre 1885 wurde die Verwaltung erneut reorganisiert. Den "Hausschatz", den der ehemalige Kurfürst zu seinem Ärger nicht mit nach Prag nehmen konnte, und den "Staatschatz" verwandte Preußen auf Druck der Kommunalstände zum dringend nötigen Aufbau des Landes (Gemäldegalerie Kassel, Armenpflege, Krankenhäuser, Bibliotheken, Straßenbau usw.) [Dokument 12]. Diese Kommunalstände, die Vertretung des 1867 eingerichteten Kommunalverbands, waren - mit eigenem Vermögen aus dem kurhessischen Staatsschatz ausgestattet - verantwortlich für die kommunale Selbstverwaltung. Durch diese Einrichtung war eine Eigenart des ehemaligen Kurhessen berücksichtigt worden.
Zwar hatte Hessen-Nassau als preußische Provinz im Grunde genommen keine eigene Geschichte mehr, diese wurde ein Teil der Geschichte des Königreichs Preußen und des Norddeutschen Bundes bzw. des Deutschen Reichs, trotzdem läßt sich in vielen Bereichen, gerade was das nördliche Hessen anlangt, durchaus eine eigene Entwicklung zeigen [Dokument 13].
Dazu eignen sich die Bereiche
- Wirtschaft und Verkehr
- Verhältnis zu den Kirchen
- Entwicklung der Parteien und Gewerkschaften
- Bildung und Kultur.
Die schon vor der Revolution von 1848 begonnene Main-Weser-Bahn wurde zügig weitergebaut und schuf durch die Zweigstrecken für viele Arbeitsuchende eine Möglichkeit, in die Orte mit sich entwickelnder Industrie zu fahren [Dokument 14]. Zwar ist der Ausbau zu einer Industrieregion im Rhein-Main-Gebiet stärker zu beobachten, aber auch das bis dahin wenig entwickelte nördliche Hessen konnte sich aus der Stagnation der letzten Jahre des Kurfürstentum befreien; besonders in Kassel (Henschel, Wegmann & Co. und Schmidt`sche Heißdampf GmbH), in Hersfeld, in der Nähe von Biedenkopf oder in Marburg (Behring-Werke) profitierten Unternehmer von der neuen politischen Situation [Dokument 15, 16]. Die Industrieausstellungen in Kassel sind ein gutes Beispiel. Auch in der Energiewirtschaft entstanden Anfang des 20. Jahrhunderts Arbeitsplätze durch den Bau der Edertalsperre oder den Braunkohleabbau; trotzdem war für viele Dorfbewohner die Wanderarbeit in Westfalen oder die Auswanderung nach Nord- und Südamerika oder nach Australien ein notweniger Weg, da sich die soziale Lage nur langsam besserte [Dokument 17,18,19,20].
Das Verhältnis der Regierung zu den Kirchen war ungeheuer schwierig, wobei in den ersten Jahren alle Gruppierungen innerhalb der evangelischen Kirche (Lutheraner, gemäßigte Reformierte, Unierte) sich gegen eine von Preußen und den Liberalen geforderte Mitarbeit der Laien in den Synoden wehrten. Die Einrichtung des Konsistoriums für alle drei evangelischen Bekenntnisse im Jahre 1873 führte zur Abspaltung der sogenannten hessischen "Renitenz" [Dokument 21 22, 23]. Das landesherrliche Kirchenregiment blieb bis 1918 bestehen. Das Verhältnis der katholischen Kirche zum preußischen Staat bot im nördlichen Hessen in den ersten Jahren kaum Grund zu Auseinandersetzungen. Der Kulturkampf hingegen (1872-1880) brachte besonders in Fulda erhebliche Wirren. Die Aufhebung der geistlichen Schulaufsicht und der sogenannte Kanzelparagraph verursachten nicht nur bei den Katholiken große Unruhe, auch die Protestanten fühlten sich herausgefordert, da sich beide Bestimmungen sowohl gegen die evangelische wie die katholische Kirche richteten. Das Priesterseminar in Fulda wurde genauso aufgelöst wie die Schule für die angehenden Theologen, das Knabenalumnat, und verschiedene Orden [Dokument 24, 25]. Die Fuldaer Zeitung beteiligte sich intensiv an der Verteidigung des Katholizismus. Erst mit dem Amtsantritt des neuen Bischofs Georg Kopp entspannte sich die Lage.
Mit der Annektierung erwarben die Bewohner des ehemaligen Kurstaates die Möglichkeit, nach dem Zensuswahlrecht Abgeordnete in das Preußische Abgeordnetenhaus zu senden und nach allgemeinen und gleichen Wahlrecht aller Männer Abgeordnete in den Reichstag. Das Spektrum der politischen Meinungsbildung war durch eine Zeitungsvielfalt breitgestreut. Im ersten Jahrzehnt nach 1866/71 waren die National-Liberalen bei den Wahlen zum Reichstag unangefochten die stärkste Kraft; sie wurden in ihrer führenden Rolle abgelöst von den Konservativen, die in den achtziger Jahren ein Drittel der Stimmen auf sich vereinen konnten; das Zentrum blieb, mit deutlichem Gewinn während der Phase des Kulturkampfes, nahezu konstant bei 11-15 %. Die Sozialdemokratische Partei war - als eine "junge" Partei - auf dem Land und in den kleineren Städten kaum vertreten, so daß man hier die Folgen des Sozialistengesetzes vom 21.10.1878 kaum wahrnahm. Anders war es in den Orten mit einer stärkeren Arbeiterschaft; hier wurden die Anhänger beobachtet und intensiv überwacht [Dokument 26, 27, 28, 29]. Es entstanden aber früh Selbsthilfeorganisationen der Gewerkschaften [Dokument 30]. Die Einrichtungen, die in Folge der sozialen Gesetzgebung den Arbeitern zugute kamen, wirkten sich gegen Ende des Jahrhundert trotz großer Reserve der Arbeiter überall positiv aus. Mit der Wahl in Jahre 1887 trat im Regierungsbezirk Kassel erstmals eine antisemitische politische Partei an, die Otto Böckel gegründet hatte. Otto Böckel wandte sich besonders an kleinbürgerliche und kleinbäuerliche Kreise und polemisierte in seiner Zeitschrift "Reichsherold", in Reden und Broschüren gegen die Juden, die in Böckels Augen an dem Wucher auf dem Lande und der "Güterschlächterei" Schuld waren [Dokument 31, 32]. Von 1887-1903 konnte seine Partei ein Viertel der Stimmen erzielen und 4 Abgeordnete in den Reichstag entsenden [Dokument 33, 34, 35].
Auch die Bedeutung der Kultur und der Wissenschaft sollte man nicht unterschätzen: Das Musikleben in Kassel blühte besonders unter Gustav Mahler [Dokument 36], die Gemäldesammlung in Kassel erhielt einen vorbildlichen Museumsbau [siehe Dokument 12], die Malerkolonie in Willingshausen wirkte über Hessen hinaus [Dokument 37], die Marburger Universität, die zur Zeit des Kurfürstentums eine Kümmerexistenz geführt hatte, nahm einen raschen Aufschwung, die örtlichen und überregionalen Geschichtsvereine trugen wesentlich zur Erforschung der Vergangenheit bei, um nur einige Einrichtungen zu nennen. Das ehemalige Kurhessen hatte sich weitgehend mit Preußen ausgesöhnt [Dokument 38, 39]. Auch der Versuch der Frauen des wohlsituierten Bürgertums, die Bildungmöglichkeiten für Mädchen zu verbessern, in Not geratenen Frauen zu helfen und damit eine Aufgabe außerhalb der engen Grenzen der Familie zu finden, gelang in Hessen-Nassau wie anderenorts [Dokument 40, 41, 42]. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs wurde der Hohe Meißner im Nordosten des ehemaligen Kurhessen der Ort, an dem sich die Mitglieder des "Wandervogel", einer Protestbewegung gegen das nationale Pathos der Zeit, versammelten [Dokument 43].
Im Ersten Weltkrieg teilte das nördliche Hessen das Schicksal des gesamten Deutschen Reichs. Zu den allgemeinen wirtschaftlichen Poblemen und der politischen Radikalisierung [Dokument 44] kam noch hinzu, daß das Schloß Wilhelmshöhe, die Sommerresidenz des Deutschen Kaisers, im Winter 1918/ 19 das Zentrum der Demobilmachung wurde. Mit dem Zusammenbruch des Königreichs Preußen [Dokument 45, 46] gewannen auch die Stimmen an Macht, die ein einheitliches Hessen anstrebten, ein Traum, der erst am 19. September 1945 in Erfüllung gehen sollte.
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