Digitale Präsentation herausgegeben von Reinhard Neebe unter Mitarbeit von Erdmuthe Terno
Einführung
Die virtuelle Präsentation von Dokumenten zur Geschichte des Strafvollzugs in Nordhessen beruht auf einer Ausstellung, die vom 11. Dezember 2002 bis 4. April 2003 im Hessischen Staatsarchiv Marburg besichtigt werden konnte. Ausschlaggebend für die Wahl des Themas war der Abschluss der archivfachlichen Erschließungsarbeiten an den Gefangenenpersonalakten der Zuchthäuser Kassel-Wehlheiden und Ziegenhain bis 1945 wie auch an den Verwaltungsakten aller nordhessischen Justizvollzugsanstalten. Die sozialgeschichtlich bedeutsamen Quellen aus verschiedenen Aktenbeständen vermitteln einen Eindruck von der Vielfalt und Dichte der einschlägigen Überlieferung im Marburger Staatsarchiv. Neben frühneuzeitlichen Drucksachen, Personalakten, Zuchthausplänen, Musterzeichnungen und anderem einschlägigen Schriftgut werden auch einige Leihgaben des Museums der Justizvollzugsanstalt Rockenberg gezeigt. Handfesseln, Ketten und ein Stranguliergerät zeugen vom rauen Alltag hinter Gittern.
Der zeitliche Rahmen der Präsentation erstreckt sich von der Zuchthausordnung, die Landgraf Karl v. Hessen-Kassel (1654-1730) am 1. September 1720 für das in der Residenzstadt neu errichtete Zuchthaus an der Fulda erließ, bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. In acht sachthematischen Blöcken werden verschiedene Aspekte des Strafvollzugs epochenübergreifend beleuchtet. Themenschwerpunkte bilden die Einrichtung und Unterhaltung der Zuchthäuser im 18. Jahrhundert, das Anstaltspersonal, die Gebäude, die Haftbedingungen, Kleidung, Verpflegung, Körperpflege und medizinische Betreuung der Straftäter, Fürsorgemaßnahmen, Schulunterricht und Kulturpflege, die in den Strafanstalten eingerichteten Arbeitsbetriebe und – last not least – Gefangenenpersonalakten. Letztere enthalten nicht nur Urteile, Lebensläufe und Charakterbeschreibungen, sondern auch Gesuche und Eingaben sowie persönliche Briefe der Häftlinge und ihrer Angehörigen und vermitteln damit z.T. sehr anrührende und erschütternde Einblicke in persönliche Schicksale.
Schon in grauer Vorzeit gab es Gefängnisse in befestigten Herrschaftssitzen und Stadttürmen, und noch immer zählen Kerker und Folterkammern zu den „Vorzeigestücken“ jeder mittelalterlichen Burganlage. Als zugleich abschreckende und Neugier erregende Instrumente der herrschaftlichen Strafgewalt haben Gefängnisse zu allen Zeiten eine starke Anziehungskraft auf die Zeitgenossen ausgeübt. Zuchthäuser und Strafanstalten, wie wir sie heute kennen, entstanden im Zuge der allmählichen Verdichtung der Staatstätigkeit im Verlauf der frühen Neuzeit. Absolutistisches Wollen und herrschaftlicher Zugriff erreichten im 18. Jahrhundert insofern einen Höhepunkt, als nunmehr in nahezu allen Territorien des Heiligen Römischen Reiches neuartige, verschiedenen Zwecken dienende Verwahranstalten (Strafanstalt, Irrenanstalt, Armen- und Waisenhaus) geschaffen wurden. Nachdem Strafrechtswissenschaft und territoriale Strafgesetzgebung die Haftstrafe in den Kanon der Kriminalsanktionen eingebaut hatten, mussten auch die entsprechenden organisatorischen Voraussetzungen für die Verhängung derartiger Strafen geschaffen werden.
Die weitere Entwicklung ist gekennzeichnet durch den auch in allen anderen Bereichen der öffentlichen Verwaltung zu beobachtenden Trend zur Bürokratisierung und Professionalisierung. In den Zuchthäusern führte dies zu einer zunehmenden Schriftlichkeit der Amtsführung, zur zahlenmäßigen Zunahme, strikten Hierarchisierung und Spezialisierung des Anstaltspersonals. Im Gefängnisbau entschied man sich zunehmend für die kostenintensivere Errichtung neuer, nach modernen Prinzipien gestalteter Zweckbauten, nachdem man zuvor häufig schon vorhandene, zur Disposition stehende Gebäude (Festungen, Schlösser, Klöster etc.) für Zwecke des Strafvollzugs umgewidmet hatte. Der Strafvollzug und die Haftbedingungen sind trotz gelegentlicher Rückschläge wie in der Zeit des Nationalsozialismus insgesamt durch eine zunehmende Humanisierung gekennzeichnet. Die Verpflegung, die ärztliche Versorgung und die hygienischen Verhältnisse verbesserten sich im Laufe des 19. Jahrhunderts deutlich. Körperliche Züchtigungen und Eisenstrafen wurden als Mittel zur Disziplinierung abgeschafft. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts traten der Fürsorgeaspekt, der Erziehungs- und Besserungsgedanke zunehmend in den Vordergrund. All dies spiegelt sich in den hier wiedergegebenen Dokumenten, die vor allem Schüler und Studenten an das Thema heranführen und zu weiteren Forschungen anregen sollen.
Die Ausstellungsobjekte sind Leihgaben aus dem Museum der Justizvollzugsanstalt Rockenberg (Foto R. Neebe)
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