10. Die Wahlen zur Nationalversammlung und die Weimarer Reichsverfassung
Aus den Wahlen zur verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 gingen die Mehrheitssozialdemokraten mit einem reichsweiten Stimmenanteil von 37,9 % als stärkste Partei hervor. Im bürgerlichen Lager wurde die Deutsche Demokratische Partei (DDP) mit 18,5 % der Stimmen stärkste Kraft, während die katholischen Parteien, Zentrum und Bayerische Volkspartei (BVP) zusammen auf 19,7 % kamen. Wahlverlierer waren die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) mit 10,3 % und die rechtsliberale Deutsche Volkspartei (DVP) mit 4,4 %.
Auch im Volksstaat Hessen sowie in der Preußischen Provinz Hessen-Nassau, im Kreis Wetzlar und im Freistaat Waldeck kam es zu einer markanten Kräfteverschiebung zugunsten der SPD und des Linksliberalismus. Erstere wurde überall zur weitaus stärksten politischen Kraft (z.B. Volksstaat Hessen 47 %, Regierungsbezirk Kassel 44 %, Freistaat Waldeck 39 %), gefolgt von der linksliberalen DDP, die zwischen 19 und 23 % pendelte. Das Zentrum erzielte in katholischen Gebieten wie Fulda sehr gute Ergebnisse.
Während SPD, Linksliberale und Zentrum im Wahlergebnis eine Bestätigung ihrer bereits 1917 im Interfraktionellen Ausschuss des Reichstags eingeleiteten engen Zusammenarbeit erblickten, standen die neu formierten rechtsbürgerlichen Parteien vor großen Orientierungs- und Anpassungsproblemen. Die Kriegsniederlage und das Ende der Monarchien hatten die hergebrachten politischen Ordnungsvorstellungen und den Wertehorizont des Bürgertums nachhaltig erschüttert.
Die verfassunggebende Nationalversammlung konstituierte sich am 6. Februar 1919 im thüringischen Weimar, nicht in dem von Unruhen heimgesuchten Berlin. Am 21. Februar begannen die eigentlichen Verfassungsberatungen, denen ein im Reichsamt des Innern von dem linksliberalen Staatsrechtler Hugo Preuß vorbereiteter Entwurf zugrunde lag. Die vor allem im Verfassungsausschuss geführten Verhandlungen dauerten bis zum 31. Juli. An diesem Tag wurde die neue Verfassung in der Schlussabstimmung mit breiter Mehrheit angenommen und am 14. August durch Veröffentlichung im Reichsgesetzblatt in Kraft gesetzt.
Die nach ihrem Entstehungsort benannte Weimarer Reichsverfassung war die erste deutsche Verfassung, die sich in ihrer Präambel zum Prinzip der Volkssouveränität bekannte und plebiszitäre Elemente in Form des Volksentscheids und des Volksbegehrens sowie der Volkswahl des Staatsoberhaupts enthielt. Hauptkonkurrent des Reichstags, der das Prinzip der repräsentativen Demokratie verkörperte, war das republikanische Staatsoberhaupt. Der vom Volk auf sieben Jahre direkt gewählte und im Notstand mit diktatorischen Machtbefugnissen ausgestattete Reichspräsident war als Garant eines starken überparteilichen Staates gedacht. Dagegen blieben der Reichskanzler mit seiner Richtlinienkompetenz und die für ihre Ressorts verantwortlichen Minister vom Vertrauen des Reichstags abhängig.
Der mit 57 Artikeln bemerkenswert umfangreiche Abschnitt über die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen enthielt nicht nur die klassisch-liberalen Grundrechte des Individuums, sondern auch Regelungen über den öffentlichen Dienst, Ehe und Familie, Religionsgesellschaften, Schule und Bildung sowie das Wirtschaftsleben.
Nach den Wahlen 1919 standen vor allem die Parteien der „Weimarer Koalition“, SPD, DDP und Zentrum, in der politischen Verantwortung. Die größten Herausforderungen bestanden in der Verbesserung der Nahrungsmittelversorgung und in der Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit.
Die große Unzufriedenheit über die schlechten Lebensbedingungen begünstigte Protestkundgebungen, die in gewaltsame Unruhen umschlagen konnten. In Berlin kam es zum „Januaraufstand“ durch linke USPD-Mitglieder, Spartakusbund und KPD. In Bremen wurde eine Räterepublik ausgerufen, im April auch in München, im Ruhrgebiet streikten die Bergarbeiter.
Regierungstreue Truppen und Freikorps schlugen diese Erhebungen brutal und blutig nieder. In diesen Monaten herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände. Medial stark beachtet wurden die politischen Morde: Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden Mitte Januar 1919 bestialisch ermordet. Am 21. Februar fiel Kurt Eisner, erster Ministerpräsident der bayerischen Republik, einem Mordkommando zum Opfer.
Die schlechte Lebensmittelsituation führte auch in Hessen zu Protesten und Unruhen. Nach gewaltsamen Plünderungen besetzten in Hanau Mitte Februar Regierungstruppen die Stadt und verhafteten die Führer des Arbeiter- und Soldatenrats. In Frankfurt verloren bei Hungerprotesten im März 1919 20 Menschen ihr Leben. Im Juni 1919 erlebte Frankfurt große Arbeitslosendemonstrationen. In Kassel forderten Krawalle wegen gestiegener Lebensmittelpreise vier Todesopfer.
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