1. Die Große Koalition 1966-1969
1. Rezession und keynesianische Konjunkturpolitik
Das zweite Kabinett Erhard war am Ausbruch der ersten Nachkriegsrezession in der Bundesrepublik gescheitert. Bis dahin hatte die Überzeugung vorgeherrscht, daß die soziale Marktwirtschaft das Problem der Arbeitslosigkeit als Folge von Konjunktureinbrüchen dauerhaft gelöst habe. Entsprechend heftig waren die Reaktionen auf den wirtschaftlichen Abschwung 1966/67. Neue Formen staatlicher Wirtschaftspolitik schienen geboten. Im neuen Kabinett der GroBen Koalition unter Bundeskanzler Kiesinger übernahmen mit Schiller (SPD) und Strauß (CDU) zwei Politiker das Wirtschafts- und Finanzministerium, die anders als Ehrhard entschlossen waren, die Rezession mit den Mitteln einer keynesianischen Politik1 der staatlichen Beeinflussung der volkswirtschaftlichen Gesamtnachfrage zu überwinden (Politik der Globalsteuerung). Tatsächlich gelang es in kaum mehr als einem Jahr die Konjunkturbewegung - die 1966/67 zum Verlust von mehr als 900000 Arbeitsplätzen führte - wieder umzukehren, wenn auch, wie die weitere Entwicklung zeigte, nicht zu verstetigen. Im einzelnen trugen mehrere Faktoren zu dieser raschen Krisenüberwindung bei.
1. Die sofort eingeleiteten Maßnahmen der Regierung zur Gegensteuerung, die zwar Überwiegend erst 1968 wirksam wurden, die aber das notwendige Vertrauen der Wirtschaft in die zukünftige Entwicklung wiederherzustellen halfen. Zu diesen Maßnahmen zählten vor allem:
- zwei Konjunkturprogramme, zur Verbesserung der besonders nachfragewirksamen öffentlichen und privaten Investitionen;
- die Verabschiedung eines "Gesetz(es) zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft", das der Regierung neue Möglichkeiten einräumte, durch steuerliche und ausgabenpolitische Maßnahmen auf den Konjunkturverlauf einzuwirken;
- die Einberufung einer "Konzertierten Aktion", d. h. eines "Runden Tisches", an dem Vertreter der Bundesregierung, der Bundesbank, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften (später noch weitere Gruppen) sich auf eine gemeinsame wirtschaftspolitische Strategie abzustimmen versuchen sollten, indem sie sich auf gemeinsame Orientierungsdaten für die jeweils eigenverantwortlichen Entscheidungen einigten.
2. Der mit der Bundesregierung abgestimmte Übergang der Bundesbank zu einer expansiven Geldpolitik.2
3. Der Ausgleich fehlender Binnennachfrage durch vermehrten Export aufgrund einer verbesserten Wettbewerbsfähigkeit (gebremster inländischer Preisanstieg) und ungleichartiger nationaler Konjunkturverläufe (die wichtigsten Exportländer wiesen anders als die Bundesrepublik weiterhin positive Wachstumsraten auf).
Die aufgezählten Faktoren waren in ihrer Verbindung so wirksam, daß sich aus dem Abschwung der Jahre 1966/67 schon 1968 ein neuer Konjunkturboom ent- wickelte, der alle Erwartungen übertraf. Bis 1970 stieg die Zahl der Erwerbstätigen wieder um mehr als eine Million an. Doch noch während der Großen Koalition - zunehmend aber in den Jahren danach - entwickelte sich ein heftiger Streit darüber, ob der Konjunkturumschwung sich tatsächlich der Globalsteuerung verdanke und ob diese überhaupt das geeignete Mittel sei, um das Konjunkturproblem in den Griff zu bekommen.
1 John Maynard Keynes, 1883-1946, englischer Nationalökonom, entwickelte die nach ihm benannte Theorie, wonach in einer sich selbst überlassenen Marktwirtschaft eine dauerhafte Unterbeschäftigung eintreten kann. Es sei dann die Aufgabe des Staates und der Zentralbank durch fiskalische (die Staatsausgaben und die Steuern betreffende) und geldpolitische Maßnahmen für eine größere, die Vollbeschäftigung sichernde Gesamtnachfrage zu sorgen.
2 Expansive Geldpolitik: Maßnahmen, die den Umfang der umlaufenden Geldmenge dadurch vergrößern, daß der Kreditspielraum der Banken erweitert und die Zinssätze gesenkt werden. Zu den dazu angewandten Mitteln gehören insbesondere: die Senkung des Diskontsatzes (Zinssatz der Zentralbank für eingereichte HandeIswechsel), Herabsetzung der Mindestreservesätze (Zwangseinlagen der Geschäftsbanken bei der Zentralbank), Offenmarktpolitik (hier: Ankauf von Wertpapieren der Geschäftsbanken durch die Zentralbank).
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