VI. Der Zivilisationsbruch: Der Nationalsozialismus und die Vernichtung des europäischen Judentums
Wenn sich das Online-Projekt „Privilegien, Pogrome, Emanzipation“ auch zum Ziel gesetzt hat, die gemeinhin übliche Fokussierung auf das Thema der Judenvernichtung von 1933-1945 zu überwinden und statt dessen die wechselvolle deutsch-jüdische Geschichte von den Anfängen im Mittelalter bis zur Gegenwart in all ihren Facetten zu dokumentieren, so bleibt gleichwohl die zentrale Wahrnehmungs- und Beurteilungsperspektive durch die Vernichtung des deutschen und europäischen Judentums im Nationalsozialismus bestimmt. Dabei zeigt sich allerdings, dass der Zivilisationsbruch in der NS-Zeit in seiner tatsächlichen historischen Dimension erst vor dem Hintergrund des christlich-jüdischen Zusammenlebens von mehr als 1000 Jahren deutlich wird.
Die Ausstellung „Privilegien, Pogrome, Emanzipation“ kann sich in ihrem Kapitel VI auf ausgewählte Schlüsseldokumente zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik beschränken: DigAM hält in verschiedenen Referenzausstellungen eine Vielzahl von Online-Quellen zum Judentum im Dritten Reich mit z.T. ausführlicheren Begleittexten bereit, die für eine vertiefende Recherche zur Verfügung stehen und die mit dem vorliegenden Angebot inhaltlich und datenbankmäßig verknüpft sind. Es handelt sich dabei um:
1. Quellen zur Geschichte der Juden in Hessen 1933-1945
URL dieser Ausstellung: http://www.digam.net/?exp=239
Diese in zwei Praktikumsseminaren vom Herausgeber gemeinsam mit Studierenden der Universität Bielefeld erarbeitete grundlegende Quellensammlung zur Geschichte der Juden 1933-1945 dokumentiert in annähernd 100 Ausstellungsräumen eine Auswahl wesentlicher Dokumente aus den Beständen des Staatsarchivs Marburg. Ausgewertet und online gestellt wurden Unterlagen aus den Akten verschiedener Gemeinden bzw. Städte (wichtig hier vor allem 330 Kirchhain), ausgewählter Landratsämter (insbesondere 180 Marburg sowie 180 Bad Wildungen, Biedenkopf, Frankenberg, Fritzlar, Wolfhagen), aus den Polizeiakten des Regierungspräsidenten Kassel im Bestand 165 sowie schließlich aus der Beständegruppe 274 Staatsanwaltschaften, die jeweils nach dem Provenienzprinzip gegliedert sind. Hierbei wurden die Strafverfahren vor dem Landgericht Marburg zur Marburger Synagogenbrandstiftung 1938 sowie zum Landfriedensbruch in Kirchhain 1938 annähernd vollständig digitalisiert und im Internet verfügbar gemacht.
2. „Jedenfalls wird jetzt tabula rasa gemacht“: Pogromnacht 1938 und der Weg in den Holocaust.
URL dieser Ausstellung: http://www.digam.net/?exp=243
Diese noch im Aufbau befindliche Ausstellung will das Schicksal der Juden zwischen 1933 und 1945 in chronologisch-systematischer Darstellung dokumentieren und zugleich im Kontext des NS-Herrschaftssystems und seiner Entscheidungsabläufe verorten. Der im Ausstellungstitel zitierte Goebbels-Tagebucheintrag vom 13.11.1938 verweist auf die Führungsebene des NS-Staates, die hier mit verschiedenen Schlüsseldokumenten zur Judenvernichtung wie z.B. der Wannsee-Konferenz vom Januar 1942 und ihrer Vorgeschichte mit dargestellt ist. Gleichzeitig soll das, was in der Sonderausstellung zur Pogromnacht (s.u. Nr. 3) nur exemplarisch gezeigt und mit ein oder zwei Auswahldokumenten thematisch angerissen werden konnte, hier möglichst vollständig und in thematischer Vertiefung abgebildet werden. Dazu gehört u.a. die auf der Grundlage neu ausgewerteter Aktenstücke aus dem Bestand 180 Landratsämter erst jetzt möglich gewordene, lückenlose Dokumentation der drei nordhessischen Juden-Deportationen vom 9. Dezember 1941 nach Riga, vom Mai/Juni 1942 nach Sobibor/Izbica sowie vom 6. September 1942 nach Theresienstadt. Auch die als „Judenaktion“ deklarierte Deportation vom 10. November 1938 in das Konzentrationslager Buchenwald kann mit Hilfe der Listen der inhaftierten „Aktionsjuden“ aus den Beständen des ITS Arolsen erstmals in breitem Umfange für den nordhessischen Raum dokumentiert werden.
3. Pogromnacht - Auftakt am 7. November 1938 in Hessen
URL dieser Ausstellung: http://www.digam.net/?exp=246
Diese Web-Seite ist die Online-Version der gleichnamigen Ausstellung des Staatsarchivs Marburg vom 5.11.2008 - 15.5.2009, die in sechs chronologisch gegliederten Kapiteln die folgenden Themenbereiche mit jeweils kurzer Einführung dokumentiert: 1. Ausgrenzung und Verfolgung 1933-1937/38, 2. Auftakt in Hessen: Die inszenierten Pogrome im November 1938, 3. Die „Judenaktion vom 10.11.1938“ und die Pogromverordnungen vom 12. November 1938, 4. Ghettoisierung, Deportationen und der Weg in den Holocaust 1939-1942/45, 5. Justizielle Aufarbeitung nach 1945 sowie 6. Erforschen, Dokumentieren, Erinnern. Zahlreiche Online-Dokumente dieser Ausstellung sind im Katalogteil des inzwischen gedruckt vorliegenden Tagungsbandes "Die Verfolgung der Juden während der NS-Zeit", hg. von A. Hedwig, R.Neebe und A.Wenz-Haubfleisch, Marburg 2011, abgebildet.
4. Juden im Marburger Landkreis 1933 - 1942
URL dieser Ausstellung: http://www.digam.net/?exp=246
In dieser kleineren Werkstattausstellung - entstanden wiederum im Rahmen eines Praktikumsseminars der Universität Bielefeld - werden ausgewählte Fallbeispiele und Aspekte der Judenverfolgung im Nationalsozialismus in mikrohistorischer Perspektive aufgegriffen, die eine punktuelle, regionalgeschichtliche Vertiefung bieten. Hierzu gehören u.a. die Kapitel „Ich habe ein Christenmädchen geschändet!“ - Der Fall Alfred Stern 1933; das Schicksal der israelitischen Schule Marburg und des Lehrers Salomon Pfifferling 1938-1940; die zentrale Judenkartei 1935 und die Marburger Judenliste 1939; die Kennzeichnungspflicht von Juden und ihren Wohnungen 1941-42. Diese Ausstellung bietet - gerade wegen ihrer Begrenzung auf exemplarische Themenfelder - einen guten Einstieg insbesondere für die Arbeit mit Schülergruppen.
5. Gesetze und Verordnungen zur Judenpolitik 1933-1943
URL dieser Ausstellung: http://www.digam.net/?exp=240
Die im Reichsgesetzblatt veröffentlichten Verordnungen und Gesetze zur nationalsozialistischen Judenpolitik von 1933 bis 1943 werden in dieser Ausstellung im Wesentlichen vollständig wiedergegeben. Die Ausgrenzung und sukzessive Entrechtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland können auf der Grundlage dieser Texte präzise nachverfolgt und in einen Zusammenhang mit den Geschehnissen auf der lokalen Ebene gebracht werden. Allein ein Blick auf die Vielzahl der antijüdischen Gesetze und Verordnungen vor und im Anschluss an die Pogromnacht zeigt, welche entscheidende Weichenstellung das Jahr 1938 auf dem Weg in den Holocaust markierte.
Reinhard Neebe
Weiterführende Literatur im Kontext der genannten DigAM-Ausstellungen:
Die Verfolgung der Juden während der NS-Zeit. Stand und Perspektiven der Dokumentation, der Vermittlung und der Erinnerung, hg. von Andreas Hedwig, Reinhard Neebe und Annegret Wenz-Haubfleisch, Marburg 2011
Reinhard Neebe, Das Digitale Archiv Marburg (DigAM). Internetressourcen zur Pogromnacht 1938 und der Geschichte der Juden in Hessen, in: ibid., S. 93-120
Reinhard Neebe / Reinhild Stein, Arbeiten mit Dokumenten aus dem "Digitalen Archiv Marburg". Nationalsozialistische Revolution" 1933/34 - Alltagssituationen der Menschen unter den Bedingungen der totalitären Diktatur, in: Praxis Schule 5-10, Heft 3, Juni 2003, S. 28-33 (mit Arbeitsblättern als Copy-Vorlagen)
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