3. Nachspiel der politischen NS-Justiz: Freisler erhebt Schadensersatzklage für die Witwe Elfriede Messerschmidt (1932-1933)
Zur nationalsozialistischen Kerngruppe in Kassel, die sich im Winter des Jahres 1923 vornehmlich aus kleinbürgerlichen Beamten, Angestellten und freiberuflich tätigen Akademikern konstitutiert hatte, gehörte neben dem Rechtsanwalt Roland Freisler auch der Kaufmann Heinrich Messerschmidt. Beide waren am 4. Mai 1924 als Mitglieder des „Völkisch-Sozialen-Blocks“ in die Kasseler Stadtverordnetenversammlung eingezogen. Als Messerschmidt nach dem Besuch einer NSDAP-Parteikundgebung im Lokal „Stadt Stockholm“ in der Kasseler Altsstadt am 18. Juni des Jahres 1930 in den zwischen Nationalsozialisten, Kommunisten und Reichsbannerleuten ausbrechenden Straßenkämpfen durch einen Messerstich tödlich verletzt wurde, stilisierten ihn die Parteifreunde bald zum Märtyrer und Heroen des Nationalsozialismus in Kassel und Kurhessen.
Aus diesem Grund mag es für Roland Freisler wohl auch eine Prestigefrage gewesen zu sein, die Klage der Witwe Heinrich Messerschmidts auf Schadensersatz gegen den Preußischen Staat in den Jahren 1932 und 1933 als Anwalt zu vertreten [Dokument 1]. Die klagende Partei stand jedoch vor einem für den Ausgang des Prozesses entscheidenden Problem: Der Anspruch auf eine Geldrente und eine Entschädigungszahlung an die hinterbliebene Witwe Elfriede Messerschmidt setzte den juristischen Nachweis voraus, dass die Kasseler Polizei, insbesondere der Polizei-Oberstleutnant Otto Schulz, beim Einsatz der Schutzpolizei am 18. Juni 1930 fahrlässig und „schuldhaft seine Amtspflicht verletzt“ habe.
Dies wiederum ließ einer detaillierten Klärung der Ereignisse dieses Tages erhebliche juristische Bedeutung zukommen [Dokument 3]. Aus historischer Perspektive fallen in dieser Hinsicht zwei Aspekte der Aktenüberlieferung besonders ins Auge: Zum einen der Konflikt der klagenden und der beklagten Partei um die Deutungshoheit darüber, was am 18. Juni „wirklich“ geschah, zum anderen ein kurze Zeit nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ einsetzender Wandel in der Darstellung der relevanten Tatsachen und der darauf aufbauenden juristischen Argumentation, die sich in zunehmendem Maße politisch und ideologisch einfärbte.Der Gang der Ereignisse vom 18. Juni stellte sich zusammengefasst wie folgt dar: In Reaktion auf das Uniformverbot des Preußischen Innenministers vom 11. Juni 1930 hatte die NSDAP für den 18. Juni insgesamt vier Parteikundgebungen in Kassel organisiert. Die Veranstaltungen wurden durch großformatige Plakate angkündigt, die unter anderem die Aufschriften „Gegen den marxistischen Mord- und Blutterror“ und „Mordbrenner“ (bezogen auf das Reichbanner) trugen. Die Agitation der NSDAP zielte offensichtlich darauf ab, die politische Gegnerschaft, vor allem der Kommunisten, Sozialisten und Sozialdemokraten, auf diese Weise zu provozieren. Eine der NSDAP-Kundgebungen fand zudem in dem Altstadt-Lokal „Stadt Stockholm“ statt, das bis dahin vornehmlich den Kommunisten und Sozialisten als Versammlungsort gedient hatte. Als die abendliche Kundgebung der NSDAP in der „Stadt Stockholm“ wegen republikfeindlicher Äußerungen vorzeitig polizeilich aufgelöst worden war (einer der Redner war Freisler), wurden die aufgrund des Uniformverbots in Zivilkleidung erschienen Nationalsozialisten von der Polizei dazu angehalten, unauffällig und in kleinen Gruppen den Heimweg anzutreten, um eine Konfrontation mit der Menschenmenge, die sich inzwischen vor dem Lokal gebildet hatte, zu vermeiden. Auf der Straße rief dann jedoch der Stadtverordnete Heinrich Messerschmidt die Nationalsozialisten dazu auf, sich geschlossen zu einer neuen Versammlung in den „Bürgersälen“ zu begeben. Auf dem Weg dorthin wurde Messerschmidt an der Garnisonskirche überfallen und von einem Messerstich in den Rücken so schwer verletzt, dass er nach mehreren Wochen des Aufenthalts im Kasseler Landeskrankenhaus an der Verletzung starb.
Aus den ersten Stellungnahmen des Polizeipräsidenten und des Regierungspräsidenten in Kassel [Dokument 2, 4] und der Erwiderung auf die Klage der Witwe Meserschmidt durch den Rechtsanwalt Otto Stahl im Namen des Preußischen Staates [Dokument 6] wurde ersichtlich, dass dem Vorwurf Freislers, die Polizei hätte die nationalsozialistischen Versammlungsteilnehmer schutzlos einer gewalttätigen Menge ausgeliefert und so deren Leben gefährdet, einstimmig widersprochen wurde.
Anders gestalteten sich allerdings die amtlichen Stellungnahmen zum Prozess Messerschmidt seit Mai des Jahres 1933: Der neue Polizeipräsident von Kassel, Fritz von Pfeffer, der vormals leitende Positionen in der Kasseler SA und SS innegehabt hatte und später die hiesige Gestapo leiten würde, verfügte am 4. Mai, dass der Witwe Messerschmidt eine Gnadenrente gewährt werden solle, und legte seinem Schreiben noch eine Stellungnahme der NSDAP-Gauleitung Hessen-Nassau-Nord bei [Dokument 7]. Der ebenfalls neue (kommissarische) Regierungspräsident in Kassel hielt zwar in seinem vier Tage darauf verfassten Schreiben eine „schuldhafte Pflichtverletzung“ von Schulz nach wie vor für ausgeschlossen, mahnte aber an, „in dem schwebenden Rechtsverfahren einen aus menschlichen und politischen Gründen an sich erwünschten Vergleich abzuschließen“ [Dokument 8, 10, 11, 12]. Der erwünschte Vergleich kam zustande: Die Witwe Messerschmidt erhielt eine Entschädigungszahlung des Preußischen Staates über 6000 Reichsmark. Sehr zutreff kam dem Ausgang des Verfahrens im Übrigen die überraschende Ergreifung, Überführung und Verurteilung der „Arbeiter“ Christ und Hickmann zu langen Zuchthausstrafen im Juni 1933 – wegen Totschlags von Heinrich Messerschmidt [Dokument 13].
Wie sehr sich das politische Umfeld bis dahin bereits gewandelt hatte, veranschaulicht der herausfordernde Sprachgebrauch Freislers in einer Erwiderung auf den erwähnten Schriftsatz von Otto Stahl. Freisler vertrat nun den Standpunkt, es sei polizeiliche Amtspflicht, „jedem einzelnen Nationalsozialisten […] Schutz zu gewähren“ – eben gerade vor einer „kommunistischen Menschenmenge“. Unverhohlen sprach er nun auch von dem „jüdischen Polizeipräsidenten Hohenstein“ [Dokument 9]. Hatte das Dienstverhalten des zu diesem Zeitpunkt schon ehemaligen Polizei-Oberstleutnants Otto Schulz hinsichtlich der Ereignisse des 18. Juni 1930 bis dahin von amtlicher Seite keinen Anlass zu überdeutlicher Kritik gegeben, sollte sich dies durch ein vernichtendes Gutachten des Polizei-Oberstleutnants Pfeffer-Wildenbruch vom 27. September 1933 gründlich ändern [Dokument 14]: Pfeffer-Wildenbruch warf Schulz vor, die Maßnahmen der Polizei am Versammlungslokal „Stadt Stockholm“ seien „derart mangelhaft und unzulänglich“ gewesen, „wie sie falscher nicht hätten getroffen werden können“. Weiter war von „grenzenloser Unfähigkeit“ und „sträflichem Verhalten“ die Rede; die Kritik gipfelte in der Behauptung, der Oberstleutnant habe sich als Mitglied der SPD, „von parteipolitischen Gesichtspunkten leiten lassen“ und auch deshalb „bewußt fahrlässig“ gehandelt.
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