20. Die demokratische Neuordnung: Der kirchliche Neuanfang
Für die Kirchen und Christen in Deutschland brachte der Zusammenbruch des NS-Regimes die Befreiung von der totalitären Bedrohung. Zwar flaute der Konflikt zwischen Nationalsozialismus auf der einen Seite und den beiden Großkirchen sowie ihren Gläubigen auf der anderen mit Kriegsbeginn ab. Auf Wunsch Hitlers sollte aus außenpolitischen Gründen die Bevölkerung nicht durch Angriffe auf die Kirchen zusätzlich beunruhigt werden. Gleichwohl machten weitere kirchenfeindliche Übergriffe des Regimes auch nach 1939 unmissverständlich deutlich, dass der NS-Staat die existenzielle Auseinandersetzung mit den Kirchen nur bis zur Nachkriegszeit zurückgestellt hatte.
In der Situation des völligen Zusammenbruchs schlug dann nach dem 8. Mai 1945 die Stunde der Kirchen. Insbesondere die westlichen Alliierten brachten den Kirchen aufgrund ihrer Opposition gegen die Gleichschaltung durch den Nationalsozialismus großen Respekt entgegen und akzeptierten kirchliche Vertreter als Gesprächspartner beim Neuaufbau von Staat und Gesellschaft. Auch in der amerikanischen Besatzungszone galt seit 1945 der Grundsatz der Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie der Nichteinmischung in religiöse und kirchliche Angelegenheiten der Besiegten, was den Kirchen nach den Jahren der Unterdrückung lang ersehnte Freiheiten brachte. Tatsächlich übernahmen sowohl die evangelische wie auch die katholische Kirche Verwaltungsaufgaben und halfen, die materielle Not zu lindern.
Hieraus resultierte in der deutschen Öffentlichkeit ein enormes Ansehen, galten doch die Kirchen im allgemeinen Chaos als einer der letzten Garanten für Kontinuität und Ordnung. Zugleich bot die kirchliche Verkündigung der weltanschaulich desillusionierten Bevölkerung eine glaubwürdige Sinndeutung der eigenen Existenz und ein allgemein anerkanntes, aus der „abendländischen Tradition“ überliefertes System von Werten und Normen. Kirchliche Repräsentanten propagierten ihrerseits das Programm der „Rechristianisierung“. Gerade weil sie im Dritten Reich der Diktatur aufgrund ihres „Wächteramts“ widerstanden hatten, verfolgten die Kirchen in der Nachkriegszeit das Ziel einer christlichen Gesellschaftsordnung auch in kritischer Distanz zum demokratischen Staat. So schaltete sich in Hessen die katholische Kirche mit Nachdruck in die politische Debatte um die Verfassungsgebung ein, indem sie u.a. die christliche Bekenntnisschule forderte.
Die öffentliche Bedeutung der beiden Großkirchen befreite diese nicht von dem Zwang der „Selbstreinigung“. Diese beschränkte sich nicht allein auf die allgemein obligatorische Entnazifierung und der Entfernung führender Deutscher Christen aus ihren kirchlichen Leitungsämtern auf evangelischer Seite, sondern drehte sich im Kern um die „Schuldfrage“. Während der NS-Zeit hatten sich kirchliche Opposition und Protest primär gegen Übergriffe des Staates in die tradierten Rechte und Freiräume der Institution Kirche gerichtet. Gegen das Unrechtsregime hatten die Kirchen nicht laut genug das Wort erhoben; vor allem gegen die Verbrechen des Nationalsozialismus an rassischen und politischen Minderheiten war nur verhaltene Kritik erfolgt. Ohne die ermordeten Juden ausdrücklich zu erwähnen, rangen sich die Kirchen in einem Akt beispielloser Selbstkritik „Schulderklärungen“ ab. Mit ihrem Hirtenbrief zu den schmerzhaften Ereignissen im Dritten Reich schritt das deutsche Episkopat am 23. August 1945 voran. Im Oktober 1945 folgte dann die evangelische Kirche mit der in ihren eigenen Reihen umstrittenen „Stuttgarter Schulderklärung“ nach.
Während die katholische Kirche in Deutschland ihre traditionelle Kirchenverfassung über die „Stunde Null“ hinweg bewahren konnte, musste sich die evangelische Kirche organisatorisch neu ordnen. Ihre schon vor 1933 geforderte Zentralisierung war ein Resultat der NS-Gleichschaltung gewesen und wurde daher zunächst rückgängig gemacht. Die Evangelische Landeskirche von Kurhessen-Waldeck blieb zwar über diese Umbruchszeit hinweg bestehen, doch die 1933 entstandene Evangelische Landeskirche Nassau-Hessen zerfiel wieder in ihre Bestandteile. Als deren Rechtsnachfolgerin bildete sich nun unter maßgeblichem Einfluss von Mitgliedern der Bekennenden Kirche die bis heute bestehende Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) mit Sitz in Darmstadt.
Lebensbild Martin Niemöller
Die kirchliche Neuordnung in Hessen war nicht allein sein Werk, doch knüpft sich die frühe Geschichte der EKHN untrennbar an die Person Martin Niemöllers.
Bis zum Ende der NS-Gewaltherrschaft stand Niemöllers Lebensweg in keiner engeren Beziehung zu Hessen. Martin Niemöller wurde am 14. Januar 1892 im westfälischen Lippstadt als Sohn des Pfarrers Heinrich Niemöller geboren. Der tiefe protestantische Glaube und die unerschütterliche deutsch-nationale Gesinnung des Elternhauses prägten auch Martin Niemöller. Unmittelbar nach seinem Abitur 1910 trat Niemöller in die kaiserliche Marine ein und stieg er im Ersten Weltkrieg zum U-Boot-Kommandanten auf. Aus Ablehnung gegenüber der neuen demokratischen Regierung von Weimar verließ er 1919 die Marine. Wohl weniger aus innerer Berufung, sondern eher aus einem Mangel an Alternativen nahm Niemöller daraufhin das Studium der Theologie in Münster auf und trat schließlich 1931 eine Stelle als Pfarrer in Berlin-Dahlem an.
Aus Glaubensüberzeugung ging der politisch eigentlich rechts stehende Niemöller seit 1933 in Opposition zum NS-Regime. Niemöller war einer der Mitbegründer und eines der aktivsten Mitglieder der Bekennenden Kirche, weshalb er seit 1937 bis Kriegsende als persönlicher Gefangener Hitlers in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Dachau verschleppt wurde.
Nach seiner Befreiung 1945 engagierte sich Niemöller wieder kirchenpolitisch. Noch im selben Jahr wurde er Mitglied des Rates der „Evangelischen Kirchen in Deutschland“ und zum Präsidenten des Kirchlichen Außenamtes gewählt, wodurch er schließlich an dessen Sitz nach Frankfurt kam. Niemöller schloss sich alsbald der nassau-hessischen Bekennenden Kirche an. Obgleich Niemöller erst zwei Jahre in Hessen ansässig war, wurde der weit über Deutschland hinaus bekannte und respektierte Geistliche bereits 1947 zum ersten Kirchenpräsidenten der EKHN gewählt und drei Jahre später in diesem hochrangigen Amt bestätigt.
Aus der Erfahrung des Dritten Reiches heraus wandelte sich Niemöller zu einem kompromisslosen Pazifisten. Wiederum aus seiner unerschütterlichen Glaubensüberzeugung setzte er sich in den 1950er Jahren gegen die Wiederbewaffnung zur Wehr. Noch bis kurz vor seinem Tod 1984 stritt Niemöller für Frieden und Abrüstung auf der Welt und war daher eine der weltweit geachteten Symbolfiguren der Friedensbewegung.
In der Situation des völligen Zusammenbruchs schlug dann nach dem 8. Mai 1945 die Stunde der Kirchen. Insbesondere die westlichen Alliierten brachten den Kirchen aufgrund ihrer Opposition gegen die Gleichschaltung durch den Nationalsozialismus großen Respekt entgegen und akzeptierten kirchliche Vertreter als Gesprächspartner beim Neuaufbau von Staat und Gesellschaft. Auch in der amerikanischen Besatzungszone galt seit 1945 der Grundsatz der Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie der Nichteinmischung in religiöse und kirchliche Angelegenheiten der Besiegten, was den Kirchen nach den Jahren der Unterdrückung lang ersehnte Freiheiten brachte. Tatsächlich übernahmen sowohl die evangelische wie auch die katholische Kirche Verwaltungsaufgaben und halfen, die materielle Not zu lindern.
Hieraus resultierte in der deutschen Öffentlichkeit ein enormes Ansehen, galten doch die Kirchen im allgemeinen Chaos als einer der letzten Garanten für Kontinuität und Ordnung. Zugleich bot die kirchliche Verkündigung der weltanschaulich desillusionierten Bevölkerung eine glaubwürdige Sinndeutung der eigenen Existenz und ein allgemein anerkanntes, aus der „abendländischen Tradition“ überliefertes System von Werten und Normen. Kirchliche Repräsentanten propagierten ihrerseits das Programm der „Rechristianisierung“. Gerade weil sie im Dritten Reich der Diktatur aufgrund ihres „Wächteramts“ widerstanden hatten, verfolgten die Kirchen in der Nachkriegszeit das Ziel einer christlichen Gesellschaftsordnung auch in kritischer Distanz zum demokratischen Staat. So schaltete sich in Hessen die katholische Kirche mit Nachdruck in die politische Debatte um die Verfassungsgebung ein, indem sie u.a. die christliche Bekenntnisschule forderte.
Die öffentliche Bedeutung der beiden Großkirchen befreite diese nicht von dem Zwang der „Selbstreinigung“. Diese beschränkte sich nicht allein auf die allgemein obligatorische Entnazifierung und der Entfernung führender Deutscher Christen aus ihren kirchlichen Leitungsämtern auf evangelischer Seite, sondern drehte sich im Kern um die „Schuldfrage“. Während der NS-Zeit hatten sich kirchliche Opposition und Protest primär gegen Übergriffe des Staates in die tradierten Rechte und Freiräume der Institution Kirche gerichtet. Gegen das Unrechtsregime hatten die Kirchen nicht laut genug das Wort erhoben; vor allem gegen die Verbrechen des Nationalsozialismus an rassischen und politischen Minderheiten war nur verhaltene Kritik erfolgt. Ohne die ermordeten Juden ausdrücklich zu erwähnen, rangen sich die Kirchen in einem Akt beispielloser Selbstkritik „Schulderklärungen“ ab. Mit ihrem Hirtenbrief zu den schmerzhaften Ereignissen im Dritten Reich schritt das deutsche Episkopat am 23. August 1945 voran. Im Oktober 1945 folgte dann die evangelische Kirche mit der in ihren eigenen Reihen umstrittenen „Stuttgarter Schulderklärung“ nach.
Während die katholische Kirche in Deutschland ihre traditionelle Kirchenverfassung über die „Stunde Null“ hinweg bewahren konnte, musste sich die evangelische Kirche organisatorisch neu ordnen. Ihre schon vor 1933 geforderte Zentralisierung war ein Resultat der NS-Gleichschaltung gewesen und wurde daher zunächst rückgängig gemacht. Die Evangelische Landeskirche von Kurhessen-Waldeck blieb zwar über diese Umbruchszeit hinweg bestehen, doch die 1933 entstandene Evangelische Landeskirche Nassau-Hessen zerfiel wieder in ihre Bestandteile. Als deren Rechtsnachfolgerin bildete sich nun unter maßgeblichem Einfluss von Mitgliedern der Bekennenden Kirche die bis heute bestehende Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) mit Sitz in Darmstadt.
Lebensbild Martin Niemöller
Die kirchliche Neuordnung in Hessen war nicht allein sein Werk, doch knüpft sich die frühe Geschichte der EKHN untrennbar an die Person Martin Niemöllers.
Bis zum Ende der NS-Gewaltherrschaft stand Niemöllers Lebensweg in keiner engeren Beziehung zu Hessen. Martin Niemöller wurde am 14. Januar 1892 im westfälischen Lippstadt als Sohn des Pfarrers Heinrich Niemöller geboren. Der tiefe protestantische Glaube und die unerschütterliche deutsch-nationale Gesinnung des Elternhauses prägten auch Martin Niemöller. Unmittelbar nach seinem Abitur 1910 trat Niemöller in die kaiserliche Marine ein und stieg er im Ersten Weltkrieg zum U-Boot-Kommandanten auf. Aus Ablehnung gegenüber der neuen demokratischen Regierung von Weimar verließ er 1919 die Marine. Wohl weniger aus innerer Berufung, sondern eher aus einem Mangel an Alternativen nahm Niemöller daraufhin das Studium der Theologie in Münster auf und trat schließlich 1931 eine Stelle als Pfarrer in Berlin-Dahlem an.
Aus Glaubensüberzeugung ging der politisch eigentlich rechts stehende Niemöller seit 1933 in Opposition zum NS-Regime. Niemöller war einer der Mitbegründer und eines der aktivsten Mitglieder der Bekennenden Kirche, weshalb er seit 1937 bis Kriegsende als persönlicher Gefangener Hitlers in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Dachau verschleppt wurde.
Nach seiner Befreiung 1945 engagierte sich Niemöller wieder kirchenpolitisch. Noch im selben Jahr wurde er Mitglied des Rates der „Evangelischen Kirchen in Deutschland“ und zum Präsidenten des Kirchlichen Außenamtes gewählt, wodurch er schließlich an dessen Sitz nach Frankfurt kam. Niemöller schloss sich alsbald der nassau-hessischen Bekennenden Kirche an. Obgleich Niemöller erst zwei Jahre in Hessen ansässig war, wurde der weit über Deutschland hinaus bekannte und respektierte Geistliche bereits 1947 zum ersten Kirchenpräsidenten der EKHN gewählt und drei Jahre später in diesem hochrangigen Amt bestätigt.
Aus der Erfahrung des Dritten Reiches heraus wandelte sich Niemöller zu einem kompromisslosen Pazifisten. Wiederum aus seiner unerschütterlichen Glaubensüberzeugung setzte er sich in den 1950er Jahren gegen die Wiederbewaffnung zur Wehr. Noch bis kurz vor seinem Tod 1984 stritt Niemöller für Frieden und Abrüstung auf der Welt und war daher eine der weltweit geachteten Symbolfiguren der Friedensbewegung.
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