18. Die demokratische Neuordnung: Der Neuaufbau der kommunalen Selbstverwaltung
Als die Nationalsozialisten im Frühjahr 1933 nach der Macht in Staat und Gesellschaft griffen, machten sie auch vor der kommunalen Selbstverwaltung nicht Halt. Mit einer Doppelstrategie, die sich einerseits des gelenkten Terrors der SA und anderer lokaler NS-Organisationen „von unten“, andererseits einer staatlichen scheinlegalen Lenkung „von oben“ bediente, riss das NS-Regime die Macht auch in den Städten der preußischen Provinzen Kurhessen und Nassau sowie im Volksstaat Hessen an sich. Bereits im Februar 1933 waren zahlreiche Bürgermeister und Landräte entlassen worden, die meisten Stadträte wurden beurlaubt oder – vor allem die aus der Arbeiterbewegung – in „Schutzhaft“ genommen. Im März 1933 wehte dann die Hakenkreuzfahne über den hessischen Rathäusern. Abgeschlossen wurde die Gleichschaltung auf kommunaler Ebene durch die Deutsche Gemeindeordnung von 1935. Die strikt nach dem „Führerprinzip“ regierten Gemeinden wurden damit formell in den zentralistischen Einheitsstaat eingegliedert.
Nach der Befreiung von der NS-Diktatur wurde an die über 120-jährige, aus dem Ideengut des Freiherrn vom Stein hervorgegangene Tradition der kommunalen Selbstverwaltung wieder angeknüpft. In der Not der Nachkriegszeit stieß der Ausspruch des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss von 1949: „Gemeinden sind wichtiger als Länder“, auf ungeteilte Zustimmung. Im Mai 1945 war der deutsche Staat in einer Katastrophe zusammengebrochen. Vor allem die von der Besatzungsmacht neuberufenen Bürgermeister und Landräte sowie 1933 aus ihren Ämtern vertriebene Gemeinderäte sorgten noch vor der Proklamation des Landes Groß-Hessen vor Ort für die Versorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen. Jene, die sich jetzt wieder auch auf ausdrücklichen Wunsch der Militärregierung für das Gemeinwohl engagierten, waren häufig Frauen und Männer, die während der NS-Zeit der Verfolgung ausgesetzt waren oder im Widerstand Leib und Leben riskiert hatten.
Die Militärregierung sah in dem lokalen politischen Engagement der Bürger eine „Schule der Demokratie“ und förderte die kommunale Selbstverwaltung mit der Abhaltung der ersten Gemeindewahlen bereits im Januar 1946. Die hohe Wahlbeteiligung von fast 85 Prozent gab der Strategie recht, den politischen Aufbau von „unten nach oben“ zu vollziehen. Bereits im Vorgriff auf die Gemeindewahlen war die Deutsche Gemeindeordnung vom 21. Dezember 1945 erlassen worden. Sie sicherte den Gemeinden eine Selbstverwaltung „unter eigener Verantwortung“ zu. Den Willen der Bürgerschaft sollte die nach dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht zu wählende Gemeindevertretung zum Ausdruck bringen, die wiederum den Bürgermeister wählte. Noch 1946 bestimmte dann Artikel 137 der Hessischen Verfassung die demokratisch konstituierten Kommunen zu ausschließlichen Trägern der gesamten öffentlichen Verwaltung und beschränkte die Staatsaufsicht auf die reine Gesetzmäßigkeitskontrolle.
Ausdruck der Rückkehr zur Demokratie auf gemeindlicher Ebene war auch die Neugründung der kommunalen Spitzenverbände nach 1945. Vor 1933 existierten historisch bedingt drei Städtetage für Kurhessen, Nassau und den Volksstaat Hessen. Nach der Machtergreifung hatte das NS-Regime die Bündelung und Vertretung kommunaler Interessen gegenüber dem Staat ausgeschaltet. Unter maßgeblicher Beteiligung der größten hessischen Stadt, Frankfurt am Main, entstand bald nach der Landesgründung der „Großhessische Städtebund“, einer der Vorläufer des heutigen Hessischen Städtetages. Analog zum Städtebund schlossen sich dann die Gemeinden zum „Gemeindebund“ und die Landkreise zum „Landkreistag“ zusammen, um ihre Interessen im Machtgefüge zwischen Kommunen und Staat besser zur Geltung bringen zu können.
Lebensbild Willi Goethe
Der langjährige Kasseler Stadtverordnete Willi Goethe steht beispielhaft für jene überzeugten Kommunalpolitiker, die sich vor 1933 in Belangen ihrer Gemeinde engagierten, dann als verfemte Demokraten die NS-Diktatur durchlitten und nach deren Zusammenbruch mit ungebrochenem Elan die öffentliche Tätigkeit für das Gemeinwohl wieder aufnahmen.
Willi Goethe, geboren am 12. Februar 1895 in der nördlich von Kassel gelegenen Kleinstadt Hannoversch Münden, erlernte im Anschluss an die Volksschule den Beruf des Schlossers. Bereits im zweiten Lehrjahr schloss er sich dem Deutschen Metallarbeiterverband an, wo er in späteren Jahren die Funktion des Vertrauensmanns übernahm. 1919 trat Goethe der SPD bei, für die er sich in die Stadtverordnetenversammlung in Kassel wählen ließ. Sein kämpferischer Einsatz für die von links und rechts bedrohte Republik von Weimar unterstreicht Goethes Mitgliedschaft im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold.
Deutlich machte sich seit 1932/33 der grundlegende Wandel der politischen Verhältnisse für Willi Goethe bemerkbar. Da er aufgrund seiner Tätigkeit als Betriebsfunktionär als „politisch unzuverlässig“ galt, verlor Goethe seine Anstellung bei der Firma Henschel & Sohn. Wie viele andere Gewerkschafter und SPD-Genossen auch, musste Willi Goethe nach der Machtergreifung Misshandlungen durch die SS erdulden. Nach seiner Freilassung stand er zwar weiterhin unter der Beobachtung der Gestapo, dennoch pflegte er den organisatorischen Zusammenhalt mit anderen Genossen in informellen Solidargemeinschaften. Im NS-Staat galt Goethe daher als „unverbesserlicher Marxist“; unmittelbar nach Kriegsbeginn wie auch nach dem 20. Juli 1944 verschleppte man ihn daher in das Konzentrationslager Sachsenhausen.
Willi Goethe überlebte die Tyrannei. Unmittelbar nach der Befreiung begann er am „Neuaufbau einer demokratischen, sozialistischen Partei in einem demokratischen Staat mitzuarbeiten“. Als Kasseler Stadtverordneter im neugewählten Kommunalparlament nahm Willi Goethe 1946 die Verantwortung an, die auf ihm als überzeugtem und auch populären Demokraten lag. Bis kurz vor seinem Tod 1969 diente Willi Goethe dem Gemeinwohl in Kassel in vielen Funktionen. Die Stadt dankte dies dem Kommunalpolitiker mit zahlreichen Ehrungen, u.a. 1965 mit der nach dem Begründer der kommunalen Selbstverwaltung benannten Freiherr-vom-Stein-Plakette.
Nach der Befreiung von der NS-Diktatur wurde an die über 120-jährige, aus dem Ideengut des Freiherrn vom Stein hervorgegangene Tradition der kommunalen Selbstverwaltung wieder angeknüpft. In der Not der Nachkriegszeit stieß der Ausspruch des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss von 1949: „Gemeinden sind wichtiger als Länder“, auf ungeteilte Zustimmung. Im Mai 1945 war der deutsche Staat in einer Katastrophe zusammengebrochen. Vor allem die von der Besatzungsmacht neuberufenen Bürgermeister und Landräte sowie 1933 aus ihren Ämtern vertriebene Gemeinderäte sorgten noch vor der Proklamation des Landes Groß-Hessen vor Ort für die Versorgung der Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigen. Jene, die sich jetzt wieder auch auf ausdrücklichen Wunsch der Militärregierung für das Gemeinwohl engagierten, waren häufig Frauen und Männer, die während der NS-Zeit der Verfolgung ausgesetzt waren oder im Widerstand Leib und Leben riskiert hatten.
Die Militärregierung sah in dem lokalen politischen Engagement der Bürger eine „Schule der Demokratie“ und förderte die kommunale Selbstverwaltung mit der Abhaltung der ersten Gemeindewahlen bereits im Januar 1946. Die hohe Wahlbeteiligung von fast 85 Prozent gab der Strategie recht, den politischen Aufbau von „unten nach oben“ zu vollziehen. Bereits im Vorgriff auf die Gemeindewahlen war die Deutsche Gemeindeordnung vom 21. Dezember 1945 erlassen worden. Sie sicherte den Gemeinden eine Selbstverwaltung „unter eigener Verantwortung“ zu. Den Willen der Bürgerschaft sollte die nach dem allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht zu wählende Gemeindevertretung zum Ausdruck bringen, die wiederum den Bürgermeister wählte. Noch 1946 bestimmte dann Artikel 137 der Hessischen Verfassung die demokratisch konstituierten Kommunen zu ausschließlichen Trägern der gesamten öffentlichen Verwaltung und beschränkte die Staatsaufsicht auf die reine Gesetzmäßigkeitskontrolle.
Ausdruck der Rückkehr zur Demokratie auf gemeindlicher Ebene war auch die Neugründung der kommunalen Spitzenverbände nach 1945. Vor 1933 existierten historisch bedingt drei Städtetage für Kurhessen, Nassau und den Volksstaat Hessen. Nach der Machtergreifung hatte das NS-Regime die Bündelung und Vertretung kommunaler Interessen gegenüber dem Staat ausgeschaltet. Unter maßgeblicher Beteiligung der größten hessischen Stadt, Frankfurt am Main, entstand bald nach der Landesgründung der „Großhessische Städtebund“, einer der Vorläufer des heutigen Hessischen Städtetages. Analog zum Städtebund schlossen sich dann die Gemeinden zum „Gemeindebund“ und die Landkreise zum „Landkreistag“ zusammen, um ihre Interessen im Machtgefüge zwischen Kommunen und Staat besser zur Geltung bringen zu können.
Lebensbild Willi Goethe
Der langjährige Kasseler Stadtverordnete Willi Goethe steht beispielhaft für jene überzeugten Kommunalpolitiker, die sich vor 1933 in Belangen ihrer Gemeinde engagierten, dann als verfemte Demokraten die NS-Diktatur durchlitten und nach deren Zusammenbruch mit ungebrochenem Elan die öffentliche Tätigkeit für das Gemeinwohl wieder aufnahmen.
Willi Goethe, geboren am 12. Februar 1895 in der nördlich von Kassel gelegenen Kleinstadt Hannoversch Münden, erlernte im Anschluss an die Volksschule den Beruf des Schlossers. Bereits im zweiten Lehrjahr schloss er sich dem Deutschen Metallarbeiterverband an, wo er in späteren Jahren die Funktion des Vertrauensmanns übernahm. 1919 trat Goethe der SPD bei, für die er sich in die Stadtverordnetenversammlung in Kassel wählen ließ. Sein kämpferischer Einsatz für die von links und rechts bedrohte Republik von Weimar unterstreicht Goethes Mitgliedschaft im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold.
Deutlich machte sich seit 1932/33 der grundlegende Wandel der politischen Verhältnisse für Willi Goethe bemerkbar. Da er aufgrund seiner Tätigkeit als Betriebsfunktionär als „politisch unzuverlässig“ galt, verlor Goethe seine Anstellung bei der Firma Henschel & Sohn. Wie viele andere Gewerkschafter und SPD-Genossen auch, musste Willi Goethe nach der Machtergreifung Misshandlungen durch die SS erdulden. Nach seiner Freilassung stand er zwar weiterhin unter der Beobachtung der Gestapo, dennoch pflegte er den organisatorischen Zusammenhalt mit anderen Genossen in informellen Solidargemeinschaften. Im NS-Staat galt Goethe daher als „unverbesserlicher Marxist“; unmittelbar nach Kriegsbeginn wie auch nach dem 20. Juli 1944 verschleppte man ihn daher in das Konzentrationslager Sachsenhausen.
Willi Goethe überlebte die Tyrannei. Unmittelbar nach der Befreiung begann er am „Neuaufbau einer demokratischen, sozialistischen Partei in einem demokratischen Staat mitzuarbeiten“. Als Kasseler Stadtverordneter im neugewählten Kommunalparlament nahm Willi Goethe 1946 die Verantwortung an, die auf ihm als überzeugtem und auch populären Demokraten lag. Bis kurz vor seinem Tod 1969 diente Willi Goethe dem Gemeinwohl in Kassel in vielen Funktionen. Die Stadt dankte dies dem Kommunalpolitiker mit zahlreichen Ehrungen, u.a. 1965 mit der nach dem Begründer der kommunalen Selbstverwaltung benannten Freiherr-vom-Stein-Plakette.
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