9. Perspektiven - Vision Europa
IX. Perspektiven
Vision Europa
Engagierte Selbsthilfe der Vertriebenen und Flüchtlinge, gezielte westdeutsche Integrationspolitik und internationale Hilfe ermöglichten die wirtschaftliche und soziale Eingliederung von Millionen Heimatvertriebenen. Damit konnte eines der größten sozialen Probleme der Nachkriegszeit gelöst werden. Aus Neubürgern wurden Bundesbürger, die hier für sich und ihre Kinder eine neue Heimat aufgebaut haben. Dieser Erfolg, der zuallererst den Vertriebenen selbst zu verdanken ist, trug um 1970 mit dazu bei, die nötigen Voraussetzungen für einen Neuanfang deutscher Osteuropapolitik zu schaffen, die 1990 in die endgültige Anerkennung der entstandenen Nachkriegsgrenzen mündete. Ohne diesen Schritt wäre die aktuelle Öffnung der Grenzen europaweit mit ihrem versöhnenden Charakter wohl so nicht erfolgt. Die positiven Erfahrungen mit der Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge können heute motivieren, die vorhandenen sozialen Probleme optimistischer anzugehen, die sich bei der allmählichen Entwicklung einer multikulturellen europäischen Gesellschaft ergeben können.
Hunderttausende von Flüchtlingen und ihre Kinder haben inzwischen Erinnerungsreisen in die alte Heimat unternommen. Manche fahren nur ein einziges Mal, um noch einmal in Ruhe Abschied zu nehmen. Bei anderen sind aber die Wunden noch zu wenig verheilt, als daß sie sich diese Reise in die Erinnerung zutrauen. Viele besuchen die alte Heimat inzwischen regelmäßig, und sie haben die neuen Bewohner ihrer früheren Häuser kennengelernt. Es sind häufig freundschaftliche Beziehungen entstanden. Diese Kontakte verstärken das Gefühl und die Einsicht, daß man die neuen Bewohner nicht vertreiben will. Sie erweisen sich als gastfreundliche Menschen, von denen viele selbst in der NS-Zeit oder in der Nachkriegszeit umgesiedelt wurden. Selbst wer in Gesprächen zu Hause auf ein Deutschland in den Grenzen von 1937 pocht, ist als Reisender über sich selbst erstaunt, wenn er die polnischen Bewohner seines Elternhauses bei jedem Besuch beschenkt und an deren Leben Anteil nimmt. Oft führen solche Reisen in die Vergangenheit auch zu der Erkenntnis, daß man heute dort nicht mehr leben möchte und die Heimat der Kinder und Enkel inzwischen Hessen ist. Dazu trägt bei, daß die Zeit dort stehen geblieben zu sein scheint, während die Vertriebenen inzwischen ein anderes Lebensgefühl entwickelt haben. Auf der anderen Seite verführen wenig besiedelte Dörfer mit leerstehenden Häusern gelegenüich auch zum Träumen von einem friedlichen Nebeneinander in einer Region.
Wenn die Polen wissen, daß sie in sicheren Grenzen leben, die in der Bundesrepublik von niemandem mehr in Frage gestellt werden, und daß keine privaten Rechts- und Besitzansprüche erhoben werden, dann erscheint auch die gemeinsame Sicherung des kulturellen Erbes im Osten möglich. Stätten der Begegnung könnten dort geschaffen und die Restaurierung wichtiger Baudenkmäler in gemeinschaftlicher Anstrengung in Angriff genommen werden.
Das Schicksal der Vertreibung und die Mühen des Einlebens in Westdeutschland haben aber auch bei vielen Vertriebenen zu einem besonderen Gespür für die Notlage von Menschen geführt, die später in die Bundesrepublik kamen. So betreut z.B. die sudetendeutsche Ackermann-Gemeinde in Frankfurt seit 1949 am Unterweg ein Wohnheim für ausländische Jugendliche aus Krisengebieten. Viele Vertriebene haben sich seit ihrer Vertreibung sehr für eine Versöhnung der Völker eingesetzt. (Dok. 38)
Vision Europa
Engagierte Selbsthilfe der Vertriebenen und Flüchtlinge, gezielte westdeutsche Integrationspolitik und internationale Hilfe ermöglichten die wirtschaftliche und soziale Eingliederung von Millionen Heimatvertriebenen. Damit konnte eines der größten sozialen Probleme der Nachkriegszeit gelöst werden. Aus Neubürgern wurden Bundesbürger, die hier für sich und ihre Kinder eine neue Heimat aufgebaut haben. Dieser Erfolg, der zuallererst den Vertriebenen selbst zu verdanken ist, trug um 1970 mit dazu bei, die nötigen Voraussetzungen für einen Neuanfang deutscher Osteuropapolitik zu schaffen, die 1990 in die endgültige Anerkennung der entstandenen Nachkriegsgrenzen mündete. Ohne diesen Schritt wäre die aktuelle Öffnung der Grenzen europaweit mit ihrem versöhnenden Charakter wohl so nicht erfolgt. Die positiven Erfahrungen mit der Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge können heute motivieren, die vorhandenen sozialen Probleme optimistischer anzugehen, die sich bei der allmählichen Entwicklung einer multikulturellen europäischen Gesellschaft ergeben können.
Hunderttausende von Flüchtlingen und ihre Kinder haben inzwischen Erinnerungsreisen in die alte Heimat unternommen. Manche fahren nur ein einziges Mal, um noch einmal in Ruhe Abschied zu nehmen. Bei anderen sind aber die Wunden noch zu wenig verheilt, als daß sie sich diese Reise in die Erinnerung zutrauen. Viele besuchen die alte Heimat inzwischen regelmäßig, und sie haben die neuen Bewohner ihrer früheren Häuser kennengelernt. Es sind häufig freundschaftliche Beziehungen entstanden. Diese Kontakte verstärken das Gefühl und die Einsicht, daß man die neuen Bewohner nicht vertreiben will. Sie erweisen sich als gastfreundliche Menschen, von denen viele selbst in der NS-Zeit oder in der Nachkriegszeit umgesiedelt wurden. Selbst wer in Gesprächen zu Hause auf ein Deutschland in den Grenzen von 1937 pocht, ist als Reisender über sich selbst erstaunt, wenn er die polnischen Bewohner seines Elternhauses bei jedem Besuch beschenkt und an deren Leben Anteil nimmt. Oft führen solche Reisen in die Vergangenheit auch zu der Erkenntnis, daß man heute dort nicht mehr leben möchte und die Heimat der Kinder und Enkel inzwischen Hessen ist. Dazu trägt bei, daß die Zeit dort stehen geblieben zu sein scheint, während die Vertriebenen inzwischen ein anderes Lebensgefühl entwickelt haben. Auf der anderen Seite verführen wenig besiedelte Dörfer mit leerstehenden Häusern gelegenüich auch zum Träumen von einem friedlichen Nebeneinander in einer Region.
Wenn die Polen wissen, daß sie in sicheren Grenzen leben, die in der Bundesrepublik von niemandem mehr in Frage gestellt werden, und daß keine privaten Rechts- und Besitzansprüche erhoben werden, dann erscheint auch die gemeinsame Sicherung des kulturellen Erbes im Osten möglich. Stätten der Begegnung könnten dort geschaffen und die Restaurierung wichtiger Baudenkmäler in gemeinschaftlicher Anstrengung in Angriff genommen werden.
Das Schicksal der Vertreibung und die Mühen des Einlebens in Westdeutschland haben aber auch bei vielen Vertriebenen zu einem besonderen Gespür für die Notlage von Menschen geführt, die später in die Bundesrepublik kamen. So betreut z.B. die sudetendeutsche Ackermann-Gemeinde in Frankfurt seit 1949 am Unterweg ein Wohnheim für ausländische Jugendliche aus Krisengebieten. Viele Vertriebene haben sich seit ihrer Vertreibung sehr für eine Versöhnung der Völker eingesetzt. (Dok. 38)
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