7. Kulturelle Integration
VII. Kulturelle Integration
Kulturschock
"In der Phase des bedingungslosen und nahezu planlosen Einströmens der Vertriebenen mußten alle verfügbaren Kräfte zur Bewältigung der katastrophalen Lebenslage mobilisiert werden. ... Sie fühlen sich von einer höheren, bereits gestalteten Stufe ihres Lebens auf eine niedere, ja niedrigste zurückgeworfen. Hier kann es mit der Erhaltung dieses sinnlos gewordenen Daseins nicht getan sein. Kulturpflege soll die Gehalte des früheren, noch als richtig und geordnet empfundenen Lebens im Bewußtsein halten und den Heimatvertriebenen helfen, das Vakuum zwischen dem angefochtenen, ja verlorenen und dem wieder erstrebten Lebensgehalt zu überwinden. Kulturpflege wurde zur Lebenshilfe für den Menschen in seinem Streben nach Lebenseinheit und -Sinngebung."
Mit diesen Worten beschreibt Richard Hackenberg, langjähriger Vorsitzender der sudetendeutschen Ackermanngemeinde in Hessen, warum Kulturarbeit für die Vertriebenen lebensnotwendig war und warum viele Vertriebene zunächst an den Werten aus ihrer alten Heimat festhielten. Die Gegenwart war trostlos und die erlittenen Verluste zu groß, als daß es Anlaß zu neuen Hoffnungen gegeben hätte. Bei der Überwindung dieses "Kulturschocks" haben die ersten landsmannschaftlichen Vereinigungen sicherlich große Hilfe geleistet, indem sie die Werte der verlorenen Heimat bewußt machten. Von hier aus gab es für die Vertriebenen mehrere Wege zu einem neuen Selbstverständnis. So suchten viele von ihnen auch bald der einheimischen Bevölkerung die Werte ihrer alten Heimat darzustellen. Daraus entwickelten sich rege Kontakte. Solche Gemeinsamkeiten wurden Anfang der 1960er Jahre durch die Einrichtung der Hessentage unterstützt, die über folkloristische Inszenierungen das Zusammenwachsen von Einheimischen und Vertriebenen fördern sollten.
Andere lösten sich schneller oder auch bewußt von der alten Heimat und wandten sich ganz der neuen zu. Sie haben dem Kulturleben hessischer Städte beachtliche Impulse gegeben.
Ostkunde
Seit 1951 bemühte sich der Landes verband der Vertriebenen verstärkt, das Kultusministerium zur Einrichtung von Ostkunde als eigenständiges Fach zu bewegen. Außerdem sollte Ostkunde als Unterrichtsprinzip in fast jedem Schulfach berücksichtigt werden. In einem ausführlich entwickelten Entwurf, der dem Kultusministerium vorgelegt wurde, verknüpften die Autoren thematisch die Auseinandersetzung mit dem Unrecht der Vertreibung mit der politischen Forderung, daß das Recht auf Heimat unverzichtbar ist. (Dok. 32) Gefordert wurde, daß die Rückkehr in die angestammte Heimat ermöglicht werden müßte. Indem die kulturelle Bindung an die Heimat weitergepflegt wurde, sollte die als vorläufig angesehene räumliche Trennung erträglicher werden. Auch wenn die Charta der Vertriebenen mit ihrer Gewaltverzichtserklärung bekräftigt wurde, lehnte sich doch der Diskussionsentwurf sprachlich an Erklärungsmodelle deutscher Geschichte an, wie sie von der früheren nationalkonservativen Geschichtsschreibung vertreten wurden. So finden sich in dem Entwurf antipolnische Vorurteile genauso wie pauschale Urteile, die Deutschlands Schuldanteil am l. Weltkrieg völlig verneinen. Nationalsozialistische Innen- und Außenpolitik, die letztlich das Unglück der Vertreibung mittelbar auslöste, wird an keiner Stelle kritisiert. Die historische Schuld deutscher Politik wird völlig verdrängt.
Ostdeutsche Geschichte im Schulbuch 1928 -1985
Auch die Schulbücher der ersten Jahrzehnte nach 1945 lösten sich nur schwer von der Tradition der Schulbücher aus der Weimarer Republik und der NS-Zeit.
Die Texte der Schulbuchautoren der Weimarer Republik tragen der Tatsache Rechnung, daß sich keine der Regierungen jener Zeit mit der polnischen Westgrenze abfinden wollte, wie sie durch den Versailler Vertrag festgelegt worden war. Den Darstellungen liegt ein einseitiges Deutschlandbild zugrunde: Deutschland ist das schuldfreie Opfer des ersten Weltkrieges, das durch den Versailler Vertrag ungerechtfertigterweise Gebietsverluste hinnehmen mußte und dadurch von seinen Entwicklungsmöglichkeiten abgeschnürt wurde. Dem positiven Selbstbild entspricht ein negatives Bild vom Ausland. Die deutschen Nachbarvölker werden als bedrohliche Feinde geschildert, die Schüler sollen gefühlsmäßig für den "großdeutschen Gedanken" gewonnen werden. Besonders deutlich wird dies durch den Verweis auf den "Verein für das Deutschtum im Ausland" (VDA), der damals vor allem in den Schulen warb und Anhänger gewann.
Von dem 1881 gegründeten Verein bestanden seit 1930/31 direkte Verbindungen zur NSDAP. Hitler brachte schon damals "in unmittelbarer Fühlung mit dem Landes verband Bayern zum Ausdruck", daß er die Ziele des VDA völlig billige (In: Der Volksdeutsche, Nr. 3, März 1931). Der VDA gehörte zu den wenigen Organisationen, die nach der Machtergreifung 1933 nicht verboten wurden und auch die Unterstützung weiterer prominenter Nationalsozialisten wie von Hermann Göring und Robert Ley fanden.
Es ist daher nicht verwunderlich, daß auch die Schulbuchautoren des Dritten Reiches auf den VDA und seine "segensreiche" Wirkung verwiesen. Denn in gewisser Weise brauchten sie die Geschichtsbücher der Weimarer Republik nur fortzuschreiben. Allerdings stellten die Verfasser die Schulbücher jetzt in den Dienst radikaler nationalsozialistischer Politik.
Programmatisch wird eine Schlüsselstelle aus Hitlers "Mein Kampf" zitiert, in der er kompromißlos die Herstellung eines "gemeinsamen Reichs" für das "gemeinsame Blut" ankündigt. Als negatives Pendant zur Höherwertigkeit des "arischen" deutschen Menschen wird grundsätzlich diskriminierend auf "die kulturell tiefstehende Bevölkerung Osteuropas" hingewiesen. Ziel der einseitigen Darstellung ist es, die Schüler zur Verachtung dieser Staaten, ihrer Menschen und ihrer politischen Systeme zu erziehen, um sie für den Kampf der nationalsozialistischen Neuordnung Europas zu gewinnen: "Nie und nimmer kann sich das deutsche Volk damit abfinden, daß ein Drittel deutscher Volks- und Blutgenossen seinem Volkstum und seiner Gemeinschaft verloren geht." Die Darstellung ostdeutscher Geschichte wird benutzt, um die Eroberung von "Lebensraum" im Osten vorzubereiten.
Nach dem Ende des NS-Herrschaftssystems wird auch in der Geschichtsdidaktik ein Neuanfang versucht, der sich in den Darstellungen der Geschichtsbücher nach 1945 widerspiegelt.
Aber zunächst bedienen sich die Autoren noch sehr eindimensionaler Erklärungsmuster, um deutsche und osteuropäische Geschichte zu vermitteln. Der NS-Mythos vom genialen Führer wird umgekehrt ins Negative: Hitler und seine Helfer, das sind die Alleinschuldigen. Damit wird in fragwürdiger Weise das große Heer der Mitwisser, Mittäter und Mitläufer, das sich in allen Gesellschaftsschichten und Einrichtungen fand, vorschnell von historischer Verantwortung entlastet.
Für die Zeit nach 1945 wird zutreffend vom Unrecht der Vertreibung gesprochen, das die Ausweisung von Millionen Menschen aus ihrer Heimat bedeutete. Historisch verkürzt wirkt die Darstellung jedoch dadurch, daß nur die Deutschen als Opfer der Volkswut in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei gesehen werden, nicht jedoch Polen, Ungarn und Tschechoslowaken als Opfer nationalsozialistischer Politik vor 1945.
Die nach dem Holocaust zu stellenden Fragen nach der historischen Verantwortung und Schuld, nach den Tätern und Opfern bzw. in unserem Zusammenhang nach der Beziehung zwischen NS-Ostpolitik vor 1945 und der Vertreibungspolitik nach 1945 scheinen mit diesen Argumentationsmustern nur schwer beantwortbar.
Erst Schulbuchautoren unserer Zeit versuchen differenzierter vorzugehen. Vereinfachende Entlastungstendenzen oder Schuldzuweisungen werden möglichst vermieden. Das historische Geschehen wird aus unterschiedlichen Sichtweisen, z.B. auch aus der polnischen dargestellt. (Dok. 34) Allerdings wird gewöhnlich die Geschichte der Flüchtlinge und Vertriebenen beschränkt auf die Darstellung der Zwangsumsiedlung. Notwendige Hintergrundinformationen über die strapaziöse Geschichte nach der Ankunft im Westen und über die Schwierigkeiten des Integrationsprozesses sind kaum zu finden, obwohl gerade hier aufklärende Informationen wichtig sind, um Probleme westdeutscher Geschichte nach 1945 verstehen zu können.
Charta der Heimatvertriebenen
Während in den Verbänden zunächst einfach das Bedürfnis nach Kontakt mit alten Bekannten und gegenseitige Hilfeleistungen im Vordergrund standen, was im übrigen für viele Mitglieder bis heute gilt, nahmen die Führer der Verbände bald ein politisches Mandat wahr. Das Koalitionsverbot der Alliierten verhinderte zwar einen raschen überregionalen Zusammenschluß, doch bald nach Gründung der Bundesrepublik wurden im August 1949 aus den bestehenden Landsmannschaften die "Vereinigten ostdeutschen Landsmannschaften" (VOL). Daraus entwickelte sich drei Jahre später - nach Aufnahme der südostdeutschen und der schlesischen Landsmannschaften - der Verband der Landsmannschaften (VdL).
Ein zentrales Dokument für die Orientierung der Landsmannschaften zu Beginn der Geschichte der Bundesrepublik ist die Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom August 1950, mit der sie auf Rache und Vergeltung verzichten. (Dok. 35) Sie versprechen, für ein geeintes Europa zu kämpfen, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können. Sie verzichten damit aber nicht auf das Recht auf Heimat, sondern erklären, dafür kämpfen zu wollen, daß es als Grundrecht der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird. Vier bis fünf Jahre nach dem Vertreibungsschock war das ein großer Schritt zur Völkerverständigung. In den folgenden Jahren des Kalten Krieges, des Denkens in militärischen Blöcken in Ost und West, gab es allerdings keine weiteren Schritte in diese Richtung.
In der Charta sichern die Vertriebenen auch zu, mit harter, unermüdlicher Arbeit am Wiederaufbau Deutschlands und Europas mitzuwirken. Gleichzeitig werden auch soziale Maßnahmen zur Unterstützung der Vertriebenen in der neuen Heimat gefordert. Im Kampf für diese Forderungen lag ein Schwerpunkt der Arbeit der Landsmannschaften.
Nachdem der Bundestag 1953 das Lastenausgleichsgesetz verabschiedet und damit eine Basis für die soziale Absicherung der Vertriebenen geleistet hatte, verlagerten die Landsmannschaften den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit von sozialen Problemen auf heimatpolitische Fragen und verstanden sich in diesem Bereich als politische Repräsentanz ihrer Mitglieder. Seit den 50er Jahren ging es ihnen immer mehr darum, das Bewußtsein der Vertriebenen als einer besonderen Gruppe wachzuhalten. Diese Aufgabe nahmen die Landsmannschaften wahr, während sich der Zentralverband vertriebener Deutscher weiterhin als soziale Interessenvereinigung verstand.
Die Oder-Neiße-Grenze
Die Vertriebenen sind in Westdeutschland nicht auf "gepackten Koffern" sitzen geblieben, sondern haben, so gut und so rasch es die Umstände erlaubten, mit dem Aufbau einer neuen Existenz begonnen. Und zweifellos ließen die radikal und oft auch brutal durchgeführten Massenausweisungen nur den Schluß zu, daß hier endgültige Tatsachen geschaffen werden sollten, zumal in die ostdeutschen Gebiete sogleich Hunderttausende von Menschen aus dem östlichen Polen strömten, das jetzt wieder an die Sowjetunion gefallen war.
Gleichwohl hegten nicht wenige Vertriebene die Hoffnung, irgendwann in ihre Heimat zurückkehren zu können. Sie konnten in den 50er Jahren der Solidarität eines großen Teils der westdeutschen Bevölkerung gewiß sein; bestand doch ein starkes Gefühl gesamtdeutscher nationaler und kultureller Verbundenheit, das auch die ostdeutschen Gebiete einschloß, die seit jeher zum Deutschen Reich gehört hatten.
Daß die Regierung der DDR die Oder-Neiße-Grenze bereits im Görlitzer Vertrag 1950 anerkannt hatte, stieß damals auch in der dortigen Bevölkerung auf starke Vorbehalte. Die Bundesregierung lehnte in den 50er und 60er Jahren eine Anerkennung dieser Grenze ab; sie stützte sich dabei auf die - auch von den westlichen Alliierten zum Beispiel im Deutschlandvertrag von 1952 bekräftigte - Tatsache, daß eine endgültige Regelung der deutschen Grenzen gemäß den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz einer friedensvertraglichen Regelung vorbehalten war. Damals zeigte sich die Bundesregierung überzeugt, daß durch eine westliche "Politik der Stärke" in absehbarer Zeit die Wiedervereinigung und eine Revision der Oder-Neiße-Grenze erreicht werden könnten.
Von der Hoffnung auf eine Revision der deutschen Ostgrenze ausgenommen blieb freilich von vornherein das Sudetenland, das vor 1938 nicht dem Deutschen Reich angehört hatte. Wie mancher Sudetendeutsche, der gleich anderen seine Heimat verloren hatte, nun aber in eine Isolierung gegenüber anderen Vertriebenen aus dem ehemaligen Reichsgebiet zu geraten drohte, sein Schicksal interpretierte und seine zukünftige Aufgabe in der Bewahrung der Tradition des Grenzlartddeutschtums sah, mögen Ausführungen des Landesvorsitzenden des hessischen Verbandes der Heimatvertriebenen Josef Walter aus dem Jahr 1952 zeigen. (Dok. 36)
Nachdem die Bundesrepublik in den 50er Jahren erfolgreich den Weg zu einer wirtschaftlichen und militärischen Integration in Westeuropa beschriften und durch diese Politik ihre innenpolitische und wirtschaftliche Stabilität gesichert hatte, wurde in den 60er Jahren zunehmend klar, daß nur die Bewahrung des Status quo von 1945 in Europa den Frieden sichern und zu einer Normalisierung der Beziehungen zu Osteuropa führen konnte. Auch wuchs in den ehemals deutschen Gebieten eine Generation von Polen und Tschechen heran, die dort bereits geboren war und für die das in der Charta der Heimatvertriebenen als "Grundrecht der Menschheit" postulierte Recht auf Heimat in gleicher Weise gelten mußte. In dieser Situation veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland im Oktober 1965 eine Denkschrift über "Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn", in der sie zur Aussöhnung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk aufrief und behutsam dazu aufforderte, sich mit der Oder-Neiße-Grenze abzufinden. Auch machte die politische Entwicklung der 60er Jahre immer deutlicher, daß eine Anerkennung der Oder-Neiße-Linie notwendig war, wenn man die Fronten des Kalten Krieges abbauen, die Beziehungen zu den Staaten Osteuropas normalisieren, die Lage Berlins sichern und den Menschen in der DDR in einer "Politik der kleinen Schritte" Verbesserungen ihrer Situation bringen wollte. Das Festhalten an der Forderung der Revision der Oder-Neiße-Grenze hätte die Bundesrepublik in eine zunehmende außenpolitische Isolation geführt.
Die von der sozial-liberalen Regierung unter Willy Brandt Ende der 60er Jahre eingeleitete neue Ostpolitik trug dem Rechnung. Sie fand bei vielen Bundesbürgern Anklang und ermöglichte es beispielsweise den Vertriebenen, ihre alte Heimat zu besuchen. Was die Politik vollzog, mochten aber namhafte Funktionäre der Vertriebenenverbände nicht mittragen. Die Vereinigung mit der DDR konnte 1990 indessen nur gelingen, weil sowohl der Bundestag als auch die DDR-Volkskammer die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze ausdrücklich anerkannten. Einzelne Vertriebenenfunktionäre unter den Bundestagsabgeordneten riefen wegen dieser Frage das Bundesverfassungsgericht an und unterlagen. Daß es in den früheren Heimatländern lange keine Schuldanerkenntnis oder auch nur ein Bedauern über die Grausamkeiten bei der Vertreibung gab, hat sicherlich zur Verhärtung der Positionen der Landsmannschaften beigetragen. (Dok. 37)
Kulturschock
"In der Phase des bedingungslosen und nahezu planlosen Einströmens der Vertriebenen mußten alle verfügbaren Kräfte zur Bewältigung der katastrophalen Lebenslage mobilisiert werden. ... Sie fühlen sich von einer höheren, bereits gestalteten Stufe ihres Lebens auf eine niedere, ja niedrigste zurückgeworfen. Hier kann es mit der Erhaltung dieses sinnlos gewordenen Daseins nicht getan sein. Kulturpflege soll die Gehalte des früheren, noch als richtig und geordnet empfundenen Lebens im Bewußtsein halten und den Heimatvertriebenen helfen, das Vakuum zwischen dem angefochtenen, ja verlorenen und dem wieder erstrebten Lebensgehalt zu überwinden. Kulturpflege wurde zur Lebenshilfe für den Menschen in seinem Streben nach Lebenseinheit und -Sinngebung."
Mit diesen Worten beschreibt Richard Hackenberg, langjähriger Vorsitzender der sudetendeutschen Ackermanngemeinde in Hessen, warum Kulturarbeit für die Vertriebenen lebensnotwendig war und warum viele Vertriebene zunächst an den Werten aus ihrer alten Heimat festhielten. Die Gegenwart war trostlos und die erlittenen Verluste zu groß, als daß es Anlaß zu neuen Hoffnungen gegeben hätte. Bei der Überwindung dieses "Kulturschocks" haben die ersten landsmannschaftlichen Vereinigungen sicherlich große Hilfe geleistet, indem sie die Werte der verlorenen Heimat bewußt machten. Von hier aus gab es für die Vertriebenen mehrere Wege zu einem neuen Selbstverständnis. So suchten viele von ihnen auch bald der einheimischen Bevölkerung die Werte ihrer alten Heimat darzustellen. Daraus entwickelten sich rege Kontakte. Solche Gemeinsamkeiten wurden Anfang der 1960er Jahre durch die Einrichtung der Hessentage unterstützt, die über folkloristische Inszenierungen das Zusammenwachsen von Einheimischen und Vertriebenen fördern sollten.
Andere lösten sich schneller oder auch bewußt von der alten Heimat und wandten sich ganz der neuen zu. Sie haben dem Kulturleben hessischer Städte beachtliche Impulse gegeben.
Ostkunde
Seit 1951 bemühte sich der Landes verband der Vertriebenen verstärkt, das Kultusministerium zur Einrichtung von Ostkunde als eigenständiges Fach zu bewegen. Außerdem sollte Ostkunde als Unterrichtsprinzip in fast jedem Schulfach berücksichtigt werden. In einem ausführlich entwickelten Entwurf, der dem Kultusministerium vorgelegt wurde, verknüpften die Autoren thematisch die Auseinandersetzung mit dem Unrecht der Vertreibung mit der politischen Forderung, daß das Recht auf Heimat unverzichtbar ist. (Dok. 32) Gefordert wurde, daß die Rückkehr in die angestammte Heimat ermöglicht werden müßte. Indem die kulturelle Bindung an die Heimat weitergepflegt wurde, sollte die als vorläufig angesehene räumliche Trennung erträglicher werden. Auch wenn die Charta der Vertriebenen mit ihrer Gewaltverzichtserklärung bekräftigt wurde, lehnte sich doch der Diskussionsentwurf sprachlich an Erklärungsmodelle deutscher Geschichte an, wie sie von der früheren nationalkonservativen Geschichtsschreibung vertreten wurden. So finden sich in dem Entwurf antipolnische Vorurteile genauso wie pauschale Urteile, die Deutschlands Schuldanteil am l. Weltkrieg völlig verneinen. Nationalsozialistische Innen- und Außenpolitik, die letztlich das Unglück der Vertreibung mittelbar auslöste, wird an keiner Stelle kritisiert. Die historische Schuld deutscher Politik wird völlig verdrängt.
Ostdeutsche Geschichte im Schulbuch 1928 -1985
Auch die Schulbücher der ersten Jahrzehnte nach 1945 lösten sich nur schwer von der Tradition der Schulbücher aus der Weimarer Republik und der NS-Zeit.
Die Texte der Schulbuchautoren der Weimarer Republik tragen der Tatsache Rechnung, daß sich keine der Regierungen jener Zeit mit der polnischen Westgrenze abfinden wollte, wie sie durch den Versailler Vertrag festgelegt worden war. Den Darstellungen liegt ein einseitiges Deutschlandbild zugrunde: Deutschland ist das schuldfreie Opfer des ersten Weltkrieges, das durch den Versailler Vertrag ungerechtfertigterweise Gebietsverluste hinnehmen mußte und dadurch von seinen Entwicklungsmöglichkeiten abgeschnürt wurde. Dem positiven Selbstbild entspricht ein negatives Bild vom Ausland. Die deutschen Nachbarvölker werden als bedrohliche Feinde geschildert, die Schüler sollen gefühlsmäßig für den "großdeutschen Gedanken" gewonnen werden. Besonders deutlich wird dies durch den Verweis auf den "Verein für das Deutschtum im Ausland" (VDA), der damals vor allem in den Schulen warb und Anhänger gewann.
Von dem 1881 gegründeten Verein bestanden seit 1930/31 direkte Verbindungen zur NSDAP. Hitler brachte schon damals "in unmittelbarer Fühlung mit dem Landes verband Bayern zum Ausdruck", daß er die Ziele des VDA völlig billige (In: Der Volksdeutsche, Nr. 3, März 1931). Der VDA gehörte zu den wenigen Organisationen, die nach der Machtergreifung 1933 nicht verboten wurden und auch die Unterstützung weiterer prominenter Nationalsozialisten wie von Hermann Göring und Robert Ley fanden.
Es ist daher nicht verwunderlich, daß auch die Schulbuchautoren des Dritten Reiches auf den VDA und seine "segensreiche" Wirkung verwiesen. Denn in gewisser Weise brauchten sie die Geschichtsbücher der Weimarer Republik nur fortzuschreiben. Allerdings stellten die Verfasser die Schulbücher jetzt in den Dienst radikaler nationalsozialistischer Politik.
Programmatisch wird eine Schlüsselstelle aus Hitlers "Mein Kampf" zitiert, in der er kompromißlos die Herstellung eines "gemeinsamen Reichs" für das "gemeinsame Blut" ankündigt. Als negatives Pendant zur Höherwertigkeit des "arischen" deutschen Menschen wird grundsätzlich diskriminierend auf "die kulturell tiefstehende Bevölkerung Osteuropas" hingewiesen. Ziel der einseitigen Darstellung ist es, die Schüler zur Verachtung dieser Staaten, ihrer Menschen und ihrer politischen Systeme zu erziehen, um sie für den Kampf der nationalsozialistischen Neuordnung Europas zu gewinnen: "Nie und nimmer kann sich das deutsche Volk damit abfinden, daß ein Drittel deutscher Volks- und Blutgenossen seinem Volkstum und seiner Gemeinschaft verloren geht." Die Darstellung ostdeutscher Geschichte wird benutzt, um die Eroberung von "Lebensraum" im Osten vorzubereiten.
Nach dem Ende des NS-Herrschaftssystems wird auch in der Geschichtsdidaktik ein Neuanfang versucht, der sich in den Darstellungen der Geschichtsbücher nach 1945 widerspiegelt.
Aber zunächst bedienen sich die Autoren noch sehr eindimensionaler Erklärungsmuster, um deutsche und osteuropäische Geschichte zu vermitteln. Der NS-Mythos vom genialen Führer wird umgekehrt ins Negative: Hitler und seine Helfer, das sind die Alleinschuldigen. Damit wird in fragwürdiger Weise das große Heer der Mitwisser, Mittäter und Mitläufer, das sich in allen Gesellschaftsschichten und Einrichtungen fand, vorschnell von historischer Verantwortung entlastet.
Für die Zeit nach 1945 wird zutreffend vom Unrecht der Vertreibung gesprochen, das die Ausweisung von Millionen Menschen aus ihrer Heimat bedeutete. Historisch verkürzt wirkt die Darstellung jedoch dadurch, daß nur die Deutschen als Opfer der Volkswut in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei gesehen werden, nicht jedoch Polen, Ungarn und Tschechoslowaken als Opfer nationalsozialistischer Politik vor 1945.
Die nach dem Holocaust zu stellenden Fragen nach der historischen Verantwortung und Schuld, nach den Tätern und Opfern bzw. in unserem Zusammenhang nach der Beziehung zwischen NS-Ostpolitik vor 1945 und der Vertreibungspolitik nach 1945 scheinen mit diesen Argumentationsmustern nur schwer beantwortbar.
Erst Schulbuchautoren unserer Zeit versuchen differenzierter vorzugehen. Vereinfachende Entlastungstendenzen oder Schuldzuweisungen werden möglichst vermieden. Das historische Geschehen wird aus unterschiedlichen Sichtweisen, z.B. auch aus der polnischen dargestellt. (Dok. 34) Allerdings wird gewöhnlich die Geschichte der Flüchtlinge und Vertriebenen beschränkt auf die Darstellung der Zwangsumsiedlung. Notwendige Hintergrundinformationen über die strapaziöse Geschichte nach der Ankunft im Westen und über die Schwierigkeiten des Integrationsprozesses sind kaum zu finden, obwohl gerade hier aufklärende Informationen wichtig sind, um Probleme westdeutscher Geschichte nach 1945 verstehen zu können.
Charta der Heimatvertriebenen
Während in den Verbänden zunächst einfach das Bedürfnis nach Kontakt mit alten Bekannten und gegenseitige Hilfeleistungen im Vordergrund standen, was im übrigen für viele Mitglieder bis heute gilt, nahmen die Führer der Verbände bald ein politisches Mandat wahr. Das Koalitionsverbot der Alliierten verhinderte zwar einen raschen überregionalen Zusammenschluß, doch bald nach Gründung der Bundesrepublik wurden im August 1949 aus den bestehenden Landsmannschaften die "Vereinigten ostdeutschen Landsmannschaften" (VOL). Daraus entwickelte sich drei Jahre später - nach Aufnahme der südostdeutschen und der schlesischen Landsmannschaften - der Verband der Landsmannschaften (VdL).
Ein zentrales Dokument für die Orientierung der Landsmannschaften zu Beginn der Geschichte der Bundesrepublik ist die Charta der deutschen Heimatvertriebenen vom August 1950, mit der sie auf Rache und Vergeltung verzichten. (Dok. 35) Sie versprechen, für ein geeintes Europa zu kämpfen, in dem die Völker ohne Furcht und Zwang leben können. Sie verzichten damit aber nicht auf das Recht auf Heimat, sondern erklären, dafür kämpfen zu wollen, daß es als Grundrecht der Menschheit anerkannt und verwirklicht wird. Vier bis fünf Jahre nach dem Vertreibungsschock war das ein großer Schritt zur Völkerverständigung. In den folgenden Jahren des Kalten Krieges, des Denkens in militärischen Blöcken in Ost und West, gab es allerdings keine weiteren Schritte in diese Richtung.
In der Charta sichern die Vertriebenen auch zu, mit harter, unermüdlicher Arbeit am Wiederaufbau Deutschlands und Europas mitzuwirken. Gleichzeitig werden auch soziale Maßnahmen zur Unterstützung der Vertriebenen in der neuen Heimat gefordert. Im Kampf für diese Forderungen lag ein Schwerpunkt der Arbeit der Landsmannschaften.
Nachdem der Bundestag 1953 das Lastenausgleichsgesetz verabschiedet und damit eine Basis für die soziale Absicherung der Vertriebenen geleistet hatte, verlagerten die Landsmannschaften den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit von sozialen Problemen auf heimatpolitische Fragen und verstanden sich in diesem Bereich als politische Repräsentanz ihrer Mitglieder. Seit den 50er Jahren ging es ihnen immer mehr darum, das Bewußtsein der Vertriebenen als einer besonderen Gruppe wachzuhalten. Diese Aufgabe nahmen die Landsmannschaften wahr, während sich der Zentralverband vertriebener Deutscher weiterhin als soziale Interessenvereinigung verstand.
Die Oder-Neiße-Grenze
Die Vertriebenen sind in Westdeutschland nicht auf "gepackten Koffern" sitzen geblieben, sondern haben, so gut und so rasch es die Umstände erlaubten, mit dem Aufbau einer neuen Existenz begonnen. Und zweifellos ließen die radikal und oft auch brutal durchgeführten Massenausweisungen nur den Schluß zu, daß hier endgültige Tatsachen geschaffen werden sollten, zumal in die ostdeutschen Gebiete sogleich Hunderttausende von Menschen aus dem östlichen Polen strömten, das jetzt wieder an die Sowjetunion gefallen war.
Gleichwohl hegten nicht wenige Vertriebene die Hoffnung, irgendwann in ihre Heimat zurückkehren zu können. Sie konnten in den 50er Jahren der Solidarität eines großen Teils der westdeutschen Bevölkerung gewiß sein; bestand doch ein starkes Gefühl gesamtdeutscher nationaler und kultureller Verbundenheit, das auch die ostdeutschen Gebiete einschloß, die seit jeher zum Deutschen Reich gehört hatten.
Daß die Regierung der DDR die Oder-Neiße-Grenze bereits im Görlitzer Vertrag 1950 anerkannt hatte, stieß damals auch in der dortigen Bevölkerung auf starke Vorbehalte. Die Bundesregierung lehnte in den 50er und 60er Jahren eine Anerkennung dieser Grenze ab; sie stützte sich dabei auf die - auch von den westlichen Alliierten zum Beispiel im Deutschlandvertrag von 1952 bekräftigte - Tatsache, daß eine endgültige Regelung der deutschen Grenzen gemäß den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz einer friedensvertraglichen Regelung vorbehalten war. Damals zeigte sich die Bundesregierung überzeugt, daß durch eine westliche "Politik der Stärke" in absehbarer Zeit die Wiedervereinigung und eine Revision der Oder-Neiße-Grenze erreicht werden könnten.
Von der Hoffnung auf eine Revision der deutschen Ostgrenze ausgenommen blieb freilich von vornherein das Sudetenland, das vor 1938 nicht dem Deutschen Reich angehört hatte. Wie mancher Sudetendeutsche, der gleich anderen seine Heimat verloren hatte, nun aber in eine Isolierung gegenüber anderen Vertriebenen aus dem ehemaligen Reichsgebiet zu geraten drohte, sein Schicksal interpretierte und seine zukünftige Aufgabe in der Bewahrung der Tradition des Grenzlartddeutschtums sah, mögen Ausführungen des Landesvorsitzenden des hessischen Verbandes der Heimatvertriebenen Josef Walter aus dem Jahr 1952 zeigen. (Dok. 36)
Nachdem die Bundesrepublik in den 50er Jahren erfolgreich den Weg zu einer wirtschaftlichen und militärischen Integration in Westeuropa beschriften und durch diese Politik ihre innenpolitische und wirtschaftliche Stabilität gesichert hatte, wurde in den 60er Jahren zunehmend klar, daß nur die Bewahrung des Status quo von 1945 in Europa den Frieden sichern und zu einer Normalisierung der Beziehungen zu Osteuropa führen konnte. Auch wuchs in den ehemals deutschen Gebieten eine Generation von Polen und Tschechen heran, die dort bereits geboren war und für die das in der Charta der Heimatvertriebenen als "Grundrecht der Menschheit" postulierte Recht auf Heimat in gleicher Weise gelten mußte. In dieser Situation veröffentlichte die Evangelische Kirche in Deutschland im Oktober 1965 eine Denkschrift über "Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn", in der sie zur Aussöhnung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk aufrief und behutsam dazu aufforderte, sich mit der Oder-Neiße-Grenze abzufinden. Auch machte die politische Entwicklung der 60er Jahre immer deutlicher, daß eine Anerkennung der Oder-Neiße-Linie notwendig war, wenn man die Fronten des Kalten Krieges abbauen, die Beziehungen zu den Staaten Osteuropas normalisieren, die Lage Berlins sichern und den Menschen in der DDR in einer "Politik der kleinen Schritte" Verbesserungen ihrer Situation bringen wollte. Das Festhalten an der Forderung der Revision der Oder-Neiße-Grenze hätte die Bundesrepublik in eine zunehmende außenpolitische Isolation geführt.
Die von der sozial-liberalen Regierung unter Willy Brandt Ende der 60er Jahre eingeleitete neue Ostpolitik trug dem Rechnung. Sie fand bei vielen Bundesbürgern Anklang und ermöglichte es beispielsweise den Vertriebenen, ihre alte Heimat zu besuchen. Was die Politik vollzog, mochten aber namhafte Funktionäre der Vertriebenenverbände nicht mittragen. Die Vereinigung mit der DDR konnte 1990 indessen nur gelingen, weil sowohl der Bundestag als auch die DDR-Volkskammer die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze ausdrücklich anerkannten. Einzelne Vertriebenenfunktionäre unter den Bundestagsabgeordneten riefen wegen dieser Frage das Bundesverfassungsgericht an und unterlagen. Daß es in den früheren Heimatländern lange keine Schuldanerkenntnis oder auch nur ein Bedauern über die Grausamkeiten bei der Vertreibung gab, hat sicherlich zur Verhärtung der Positionen der Landsmannschaften beigetragen. (Dok. 37)
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