3. Das Provisorium wird zum Dauerzustand
III. Das Provisorium wird zum Dauerzustand
Ringen um Wohnraum und Arbeit
Wenn auch die Vertriebenen und Flüchtlinge meist froh waren, wenn sie ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen hatten, so wuchs doch ihre Unzufriedenheit, als sich abzeichnete, daß sie nicht in ihre Heimat zurückkehren würden, und Hunger und Enge weiter den Alltag prägten. (Dok. 14) Das enge Zusammenleben, die langjährige gemeinsame Benutzung von Herd und Wohnung durch zwei oder mehr Familien führten nicht selten zu Spannungen.
Eine Repräsentativzählung aus dem Jahre 1947 ergab, daß sich die Wohnsituation von Einheimischen (1,8 Personen pro Zimmer), Evakuierten (2,3 Personen pro Zimmer) und Vertriebenen (über 3 Personen pro Zimmer) stark unterschied. In Nordhessen traten diese Unterschiede noch stärker hervor. Diese "Dreiklassengesellschaft" zeigte sich auch bei der Ausstattung mit Hausrat. Ein eigenes Bett war die Ausnahme in Flüchtlingsfamilien, und Bettzeug noch schwerer zu bekommen. Ein eigener Herd und eigenes Kochgeschirr fehlten vielfach. Die Wohnungssituation der "Neubürger" verbesserte sich nur schleppend. Die in den Jahren 1946 und 1947 im Rahmen des Wohnungsbaunotprogramms des Landes begonnenen Neubauten für Flüchtlinge blieben stecken. In ganz Hessen wurden bis zum Frühjahr 1949 nicht einmal 1500 Neubauten für Flüchtlinge fertiggestellt, weil einfach kein Baumaterial zu bekommen war.
Auf dem Arbeitsmarkt verschlechterte sich die Lage der Flüchtlinge sogar. Als die Bauern nach der Währungsreform Hilfsleistungen der Flüchtlinge in harter Währung bezahlen mußten, verrichteten viele die Arbeit lieber selbst. Nach der Währungsreform stieg die Arbeitslosenquote der Vertriebenen bis 1950 auf 21,6% gegenüber 12,1 % bei der einheimischen Bevölkerung und sank dann nur langsam. Den größten Anteil an der Gesamtzahl der arbeitslosen Vertriebenen hatten die Bauberufe und die Textilerzeugung und -Verarbeitung, gefolgt von den kaufmännischen Berufen. Besonders schlecht war die Lage der Bauern (41% arbeitslos). Wie groß der soziale Abstieg der Vertriebenen war, wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, daß ein Viertel der Beschäftigten "berufsfremd" eingesetzt war und daß von denen, die als "berufsecht" gezählt wurden, sehr viele zuvor als Selbständige gearbeitet hatten und nun abhängig beschäftigt waren.
Die Zuspitzung der Lage nach der Währungsreform schildert der Landesvorsitzende der Heimatvertriebenen in einem Schreiben an das Landesamt für Flüchtlinge vom 24. Mai 1949:
"Die Zahl der Arbeitslosen und Einkommenslosen in den Kreisen der Heimatvertriebenen
wächst von Tag zu Tag. Sie steht in gar keinem Verhältnis zur Zahl der Arbeitslosen aus den
Kreisen der Einheimischen. Die Verzweiflung hat einen Höhepunkt erreicht, der kaum mehr
überschritten werden kann. Auf der anderen Seite des Lebens sehen diese Menschen, denen
jedweder Maßstab für ein gesundes Urteil abhanden gekommen ist, Überfluß und Genuß
sucht. Es ist nur eine ganz kurze Spanne bis zu der Vorstellung, daß jeder, dem es irgendwie
besser geht, ein Freund der Einheimischen sein müsse und daß er deshalb als Freund der
Einheimischen anzusehen sei. Wenn nicht bald durchgreifende Maßnahmen, die zu einer
Besserung führen, ergriffen werden, dürften sich die Beziehungen zwischen beiden Bevölke
rungsgruppen mit Hochspannung laden." ,
Besonders große Anpassungsschwierigkeiten hatten die Sudetendeutschen. Die amerikanische Militärregierung berichtete 1947, die meisten Flüchtlinge seien äußerst verbittert und deprimiert. Das gelte besonders für die Sudetendeutschen, von denen viele in der Tschechoslowakei vergleichsweise wohlhabend gewesen und nun ohne einen Pfennig in Hessen
angekommen seien. Vor allem, wenn sie aus der Stadt kämen, sähen sie sich selbst oft als gebildeter und kultivierter an als die einheimische Bevölkerung, und deshalb würde ihnen die Anpassung an ihre neue Umgebung schwerfallen. Auch war es ihnen von Anfang an bewußter als beispielsweise den Flüchtlingen aus dem Gebiet jenseits der Oder-Neiße-Linie, daß eine baldige Rückkehr in die Heimat nicht zu erwarten war.
Immer wiederkehrende Klagen von Flüchtlingen vor allem auf dem Lande waren:
1. Die ungerechte Wohnraumverteilung und der Mangel an Hausrat, wobei neben der Hartherzigkeit der Einheimischen vor allem auch das Versagen der Behörden getadelt wurde. Bürgermeister und Landrat wagten nicht, sich massiv für die Interessen der Flüchtlinge einzusetzen, weil sie Angst hätten, nicht wiedergewählt zu werden.
2. Das Vorenthalten von Waren. Für Bezugsscheine sei bei einheimischen Geschäftsleuten nichts zu erhalten.
3. Die schleppende Entnazifizierung und, damit verbunden, die fehlende Möglichkeit, einen selbständigen Handels- oder Gewerbebetrieb mit mehr als neun Mitarbeitern zu eröffnen.
Eine drastische, aber nicht außergewöhnliche Zusammenfassung solcher Beschwerden lautete: Der Flüchtling wolle "weder Almosenempfänger sein noch ein neuer Typ des Ostarbeiters."
Lager Trutzhain
Wie wechselvoll die Vorgeschichte einer Vertriebenensiedlung sein kann, zeigt das Lager Trutzhain. Aus den Baracken des "Kriegsgefangenen-Stammlagers IX A Ziegenhain" (Stalag) des Wehrbereichs Kassel ist die Flüchtlingsgemeinde Trutzhain erwachsen, heute ein Ortsteil von Schwalmstadt. Zum Stalag IX A gehörten 1944 fast 50 000 Gefangene, neben Franzosen auch sowjetische, belgische, holländische und englische Kriegsgefangene. In Trutzhain sind über 400 polnische und sowjetische Gefangene begraben. Nach Kriegsende waren hier führende Nazis interniert. Ihnen folgten jüdische Zwangsverschleppte, die die NS-Zeit überlebt hatten und auf ihre Abreise nach Palästina warteten. Nachdem sie das Lager verlassen hatten, stand es leer. Wer den das Lager beherrschenden Wachtturm sieht (Dok. 8), wird nur schwer nachvollziehen können, wie groß die Freude der Vertriebenen war, die hier im Frühjahr 1948 einzogen. Zeitzeugen berichten, daß Vertriebenenfamilien das leerstehende Lager entdeckt und dann "instandbesetzt" haben. Bei der Gemeinde Steina, zu deren Gemarkung das Lager gehörte, beim Kreis Ziegenhain und dem Land Hessen herrschte lange Unsicherheit, wie man darauf reagieren sollte. Die Lagerbewohner regelten ihre gemeinsamen Angelegenheiten in einer Art direkter Demokratie. Sie erreichten, daß aus dem Lager 1950 eine selbständige Gemeinde mit dem Namen "Trutzhain" wurde, die bald über 500 Einwohner zählte und der Region Arbeitsplätze bot. (Dok. 9)
Wie in Trutzhain haben Vertriebene auch andernorts auf militärischem Gelände Städte gegründet, so z.B. in Allendorf und Hessisch-Lichtenau.
Frankfurter Bunker
Ebensowenig wie die Kriegsgefangenenlager waren die großen Bunker in der Stadt Frankfurt jemals als Dauerunterkünfte geplant worden. Hier lebten noch 1952 in 14 Bunkern über
2000 Menschen, die vom Fürsorgeamt dort untergebracht worden waren, unter ihnen viele Vertriebene. Trotz langer Bemühungen der Stadt Frankfurt um Ersatzwohnungen konnten die letzten Bunker erst Anfang der 1960er Jahre geräumt werden. (Dok. 10 und 11)
In einer Reportage der "Frankfurter Rundschau" aus dem Jahre 1952 heißt es: "Im Sindlinger Bunker hausen rund 200 Menschen. Fünfzig Familien haben nur fünfzig Kinder - meist schwächliche und blasse Kinder, die viel husten, weil ihre Bronchien krank sind. 'Jede Stunde im Bunker ist Gift', sagte der Arzt. Der Mensch verfügt hier durchschnittlich über drei Quadratmeter Wohnraum, das heißt, ein Ehepaar ohne Kind über eine Kabine von 6 Quadratmeter (zwei Meter breit, drei Meter lang). Die Einzelkabine kostet, einschließlich aller Abgaben, 19 Mark; eine weitere 3,75 Mark. Große Möbel lassen sich nicht stellen. Die Enge wirkt auf den fremden Gast bedrückend. Ein Teil der Bewohner tut offenbar das mögliche, sich das Leben in diesen Betonklausen erträglich zu machen; sie halten Sauberkeit und Ordnung. Andere scheinen zu resignieren.
Gemeinsame Küche, kein Herd, nur Kochplatten. Gemeinsame Wasch- und Toilettenräume, getrennt für Männer und Frauen. Heißluftheizung; frische Luft wird alle drei Stunden - dann zwei Stunden lang - durch Rohre in Gänge und Kabinen geschleust. Frische Luft, das einfachste sonst, das kostbarste hier - in den oberen Stockwerken ballt sich der Dunst zu einem faden, schalen, zugleich muffigen und säuerlichen Brodem. Gewiß, es gibt einen Dachboden zum Wäschetrocknen und eine Waschküche im Keller; gewiß, die Bunkerverwaltung liefert nach Bedarf Feldbett, Strohsack, Spind und Holzbank - die Bunkerverwaltung tut auch das mögliche - und dennoch: eine Kaserne war Gold dagegen, eine Kaserne hatte wenigstens Fenster.
Die Bewohner klagen nicht. Manche sagen, sie hätten schon Schlimmeres hinter sich. Bloß, daß die anderen Kinder im Ort um die Buben und Mädchen aus dem Bunker einen weiten Bogen machen - das schmerzt; und daß man selbst auf dem Omnibus, wenn man zur Arbeit fährt, plötzlich wie im leeren Raum steht, mit deutlichem Abstand zu jedem nächsten - das kränkt."
Notquartiere in Wiesbaden
Auch in der Stadt Wiesbaden lebten Vertriebene lange in Notunterkünften. Es handelte sich vor allem um Vertriebene aus dem Sudetenland. Eine solche Massenunterkunft war der sogenannte U-Bau, die einzige fertiggestellte Kaserne eines früheren militärischen Bauvorhabens im Dotzheimer Norden. Die Stadt hatte sich zwar sehr schnell für den Bau einer Siedlung auf der Kohlhecker Höhe in unmittelbarer Nähe der Kaserne eingesetzt, doch weil kein Material zu bekommen war, konnte die Wiesbadener Wohnungsbaugesellschaft ihre schon 1946 und 1947 begonnenen Siedlungshäuser erst gegen Ende des Jahres 1949 weiterbauen. Viele Flüchtlinge mußten jahrelang im U-Bau wohnen. (Dok. 12) Das enge Zusammenleben wurde noch dadurch erschwert, daß in dem Gebäude auch Werkstätten untergebracht waren, neben einer Kristallschleiferei noch eine Kammgarnspinnerei, Laborräume einer chemischen Fabrik und ein graphischer Betrieb. Schlimmer noch als die dauernde Lärmbelästigung waren die baulichen Verhältnisse. Der "Wiesbadener Kurier" skizzierte diese im März 1950 wie folgt: "Fehlende Haustüren, behelfsmäßig angelegte Holzbohlen als Treppenstufen, ebenso primitive Geländer und große Lücken im Dach bringen die 200 Menschen mit 50 Kindern in dauernde Gefahren, vom Verputz der Flurwände ist ganz zu schweigen. Im dunklen Flur des Erdgeschosses zeugen Löcher und Wasserlachen von der fehlenden Kanalisation."
Unter ähnlichen Bedingungen mußten Flüchtlinge im Fort Biehler in Mainz-Kastel hausen. Noch 1951 lebte über die Hälfte der Heimatvertriebenen in Wiesbaden in Notwohnungen (Dok. 13) oder als Untermieter. Dabei gab es aber auch kleine Verbesserungen, die damals sehr positiv empfunden wurden. Für Familie R. schien es zunächst wie ein Glücksfall, daß sie mit Kind und Großmutter aus einem umgebauten Lagerschuppen in zwei Räume einer Baracke umziehen konnte, die die Werft für ihre vertriebenen Arbeiter gebaut hatte. Obwohl die Familie auf sechs Personen anwuchs, mußte sie unter diesen Verhältnissen mehr als zehn Jahre ausharren, bis ihr Anfang der 1960er Jahre eine Wohnung zugewiesen wurde. Allerdings hatte auch ein erheblicher Teil der einheimischen Bevölkerung längere Zeit mit Notwohnungen oder sehr beengten Untermierverhältnissen vorlieb nehmen müssen. Da aber viele Heimatvertriebene eine Arbeitsmöglichkeit nur in den Städten finden konnten, nahmen sie dort auch schlechte Wohnverhältnisse in Kauf.
"Schwarzgänger"
Erschwert wurde die Situation aus der Sicht aller Beteiligten, d.h. der Flüchtlingsverwaltung, der Flüchtlinge und Vertriebenen der Jahre 1945/46, der Evakuierten und der einheimischen ansässigen Bevölkerung durch das ständige Nachströmen weiterer Arbeits- und Wohnungssuchender, nämlich der Flüchtlinge aus der sowjetischen Zone: Bis zum Frühjahr 1949 waren es 50 000. Meist handelte es sich um Jugendliche, die befürchteten, in der SBZ arbeits- oder dienstverpflichtet zu werden. Zunächst kümmerte sich die westdeutsche Flüchtlingsverwaltung gar nicht um sie. Das bedeutete, daß sie auch keinerlei Unterstützung erhielten. Erst 1949 wurde ein Aufnahmeverfahren eingerichtet. Als SBZ-Flüchtling anerkannt wurde, wer nachweisen konnte, daß er politisch verfolgt wurde. Die Anerkennungsquote lag niedrig, solange auf dem Arbeitsmarkt nur geringe Nachfrage war.
Insgesamt läßt sich für die Zeit bis 1950 feststellen, daß durch die anhaltende große Not und das Schwinden der Rückkehrhoffnungen das Verhältnis zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen und den Einheimischen angespannter wurde.
Ringen um Wohnraum und Arbeit
Wenn auch die Vertriebenen und Flüchtlinge meist froh waren, wenn sie ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen hatten, so wuchs doch ihre Unzufriedenheit, als sich abzeichnete, daß sie nicht in ihre Heimat zurückkehren würden, und Hunger und Enge weiter den Alltag prägten. (Dok. 14) Das enge Zusammenleben, die langjährige gemeinsame Benutzung von Herd und Wohnung durch zwei oder mehr Familien führten nicht selten zu Spannungen.
Eine Repräsentativzählung aus dem Jahre 1947 ergab, daß sich die Wohnsituation von Einheimischen (1,8 Personen pro Zimmer), Evakuierten (2,3 Personen pro Zimmer) und Vertriebenen (über 3 Personen pro Zimmer) stark unterschied. In Nordhessen traten diese Unterschiede noch stärker hervor. Diese "Dreiklassengesellschaft" zeigte sich auch bei der Ausstattung mit Hausrat. Ein eigenes Bett war die Ausnahme in Flüchtlingsfamilien, und Bettzeug noch schwerer zu bekommen. Ein eigener Herd und eigenes Kochgeschirr fehlten vielfach. Die Wohnungssituation der "Neubürger" verbesserte sich nur schleppend. Die in den Jahren 1946 und 1947 im Rahmen des Wohnungsbaunotprogramms des Landes begonnenen Neubauten für Flüchtlinge blieben stecken. In ganz Hessen wurden bis zum Frühjahr 1949 nicht einmal 1500 Neubauten für Flüchtlinge fertiggestellt, weil einfach kein Baumaterial zu bekommen war.
Auf dem Arbeitsmarkt verschlechterte sich die Lage der Flüchtlinge sogar. Als die Bauern nach der Währungsreform Hilfsleistungen der Flüchtlinge in harter Währung bezahlen mußten, verrichteten viele die Arbeit lieber selbst. Nach der Währungsreform stieg die Arbeitslosenquote der Vertriebenen bis 1950 auf 21,6% gegenüber 12,1 % bei der einheimischen Bevölkerung und sank dann nur langsam. Den größten Anteil an der Gesamtzahl der arbeitslosen Vertriebenen hatten die Bauberufe und die Textilerzeugung und -Verarbeitung, gefolgt von den kaufmännischen Berufen. Besonders schlecht war die Lage der Bauern (41% arbeitslos). Wie groß der soziale Abstieg der Vertriebenen war, wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, daß ein Viertel der Beschäftigten "berufsfremd" eingesetzt war und daß von denen, die als "berufsecht" gezählt wurden, sehr viele zuvor als Selbständige gearbeitet hatten und nun abhängig beschäftigt waren.
Die Zuspitzung der Lage nach der Währungsreform schildert der Landesvorsitzende der Heimatvertriebenen in einem Schreiben an das Landesamt für Flüchtlinge vom 24. Mai 1949:
"Die Zahl der Arbeitslosen und Einkommenslosen in den Kreisen der Heimatvertriebenen
wächst von Tag zu Tag. Sie steht in gar keinem Verhältnis zur Zahl der Arbeitslosen aus den
Kreisen der Einheimischen. Die Verzweiflung hat einen Höhepunkt erreicht, der kaum mehr
überschritten werden kann. Auf der anderen Seite des Lebens sehen diese Menschen, denen
jedweder Maßstab für ein gesundes Urteil abhanden gekommen ist, Überfluß und Genuß
sucht. Es ist nur eine ganz kurze Spanne bis zu der Vorstellung, daß jeder, dem es irgendwie
besser geht, ein Freund der Einheimischen sein müsse und daß er deshalb als Freund der
Einheimischen anzusehen sei. Wenn nicht bald durchgreifende Maßnahmen, die zu einer
Besserung führen, ergriffen werden, dürften sich die Beziehungen zwischen beiden Bevölke
rungsgruppen mit Hochspannung laden." ,
Besonders große Anpassungsschwierigkeiten hatten die Sudetendeutschen. Die amerikanische Militärregierung berichtete 1947, die meisten Flüchtlinge seien äußerst verbittert und deprimiert. Das gelte besonders für die Sudetendeutschen, von denen viele in der Tschechoslowakei vergleichsweise wohlhabend gewesen und nun ohne einen Pfennig in Hessen
angekommen seien. Vor allem, wenn sie aus der Stadt kämen, sähen sie sich selbst oft als gebildeter und kultivierter an als die einheimische Bevölkerung, und deshalb würde ihnen die Anpassung an ihre neue Umgebung schwerfallen. Auch war es ihnen von Anfang an bewußter als beispielsweise den Flüchtlingen aus dem Gebiet jenseits der Oder-Neiße-Linie, daß eine baldige Rückkehr in die Heimat nicht zu erwarten war.
Immer wiederkehrende Klagen von Flüchtlingen vor allem auf dem Lande waren:
1. Die ungerechte Wohnraumverteilung und der Mangel an Hausrat, wobei neben der Hartherzigkeit der Einheimischen vor allem auch das Versagen der Behörden getadelt wurde. Bürgermeister und Landrat wagten nicht, sich massiv für die Interessen der Flüchtlinge einzusetzen, weil sie Angst hätten, nicht wiedergewählt zu werden.
2. Das Vorenthalten von Waren. Für Bezugsscheine sei bei einheimischen Geschäftsleuten nichts zu erhalten.
3. Die schleppende Entnazifizierung und, damit verbunden, die fehlende Möglichkeit, einen selbständigen Handels- oder Gewerbebetrieb mit mehr als neun Mitarbeitern zu eröffnen.
Eine drastische, aber nicht außergewöhnliche Zusammenfassung solcher Beschwerden lautete: Der Flüchtling wolle "weder Almosenempfänger sein noch ein neuer Typ des Ostarbeiters."
Lager Trutzhain
Wie wechselvoll die Vorgeschichte einer Vertriebenensiedlung sein kann, zeigt das Lager Trutzhain. Aus den Baracken des "Kriegsgefangenen-Stammlagers IX A Ziegenhain" (Stalag) des Wehrbereichs Kassel ist die Flüchtlingsgemeinde Trutzhain erwachsen, heute ein Ortsteil von Schwalmstadt. Zum Stalag IX A gehörten 1944 fast 50 000 Gefangene, neben Franzosen auch sowjetische, belgische, holländische und englische Kriegsgefangene. In Trutzhain sind über 400 polnische und sowjetische Gefangene begraben. Nach Kriegsende waren hier führende Nazis interniert. Ihnen folgten jüdische Zwangsverschleppte, die die NS-Zeit überlebt hatten und auf ihre Abreise nach Palästina warteten. Nachdem sie das Lager verlassen hatten, stand es leer. Wer den das Lager beherrschenden Wachtturm sieht (Dok. 8), wird nur schwer nachvollziehen können, wie groß die Freude der Vertriebenen war, die hier im Frühjahr 1948 einzogen. Zeitzeugen berichten, daß Vertriebenenfamilien das leerstehende Lager entdeckt und dann "instandbesetzt" haben. Bei der Gemeinde Steina, zu deren Gemarkung das Lager gehörte, beim Kreis Ziegenhain und dem Land Hessen herrschte lange Unsicherheit, wie man darauf reagieren sollte. Die Lagerbewohner regelten ihre gemeinsamen Angelegenheiten in einer Art direkter Demokratie. Sie erreichten, daß aus dem Lager 1950 eine selbständige Gemeinde mit dem Namen "Trutzhain" wurde, die bald über 500 Einwohner zählte und der Region Arbeitsplätze bot. (Dok. 9)
Wie in Trutzhain haben Vertriebene auch andernorts auf militärischem Gelände Städte gegründet, so z.B. in Allendorf und Hessisch-Lichtenau.
Frankfurter Bunker
Ebensowenig wie die Kriegsgefangenenlager waren die großen Bunker in der Stadt Frankfurt jemals als Dauerunterkünfte geplant worden. Hier lebten noch 1952 in 14 Bunkern über
2000 Menschen, die vom Fürsorgeamt dort untergebracht worden waren, unter ihnen viele Vertriebene. Trotz langer Bemühungen der Stadt Frankfurt um Ersatzwohnungen konnten die letzten Bunker erst Anfang der 1960er Jahre geräumt werden. (Dok. 10 und 11)
In einer Reportage der "Frankfurter Rundschau" aus dem Jahre 1952 heißt es: "Im Sindlinger Bunker hausen rund 200 Menschen. Fünfzig Familien haben nur fünfzig Kinder - meist schwächliche und blasse Kinder, die viel husten, weil ihre Bronchien krank sind. 'Jede Stunde im Bunker ist Gift', sagte der Arzt. Der Mensch verfügt hier durchschnittlich über drei Quadratmeter Wohnraum, das heißt, ein Ehepaar ohne Kind über eine Kabine von 6 Quadratmeter (zwei Meter breit, drei Meter lang). Die Einzelkabine kostet, einschließlich aller Abgaben, 19 Mark; eine weitere 3,75 Mark. Große Möbel lassen sich nicht stellen. Die Enge wirkt auf den fremden Gast bedrückend. Ein Teil der Bewohner tut offenbar das mögliche, sich das Leben in diesen Betonklausen erträglich zu machen; sie halten Sauberkeit und Ordnung. Andere scheinen zu resignieren.
Gemeinsame Küche, kein Herd, nur Kochplatten. Gemeinsame Wasch- und Toilettenräume, getrennt für Männer und Frauen. Heißluftheizung; frische Luft wird alle drei Stunden - dann zwei Stunden lang - durch Rohre in Gänge und Kabinen geschleust. Frische Luft, das einfachste sonst, das kostbarste hier - in den oberen Stockwerken ballt sich der Dunst zu einem faden, schalen, zugleich muffigen und säuerlichen Brodem. Gewiß, es gibt einen Dachboden zum Wäschetrocknen und eine Waschküche im Keller; gewiß, die Bunkerverwaltung liefert nach Bedarf Feldbett, Strohsack, Spind und Holzbank - die Bunkerverwaltung tut auch das mögliche - und dennoch: eine Kaserne war Gold dagegen, eine Kaserne hatte wenigstens Fenster.
Die Bewohner klagen nicht. Manche sagen, sie hätten schon Schlimmeres hinter sich. Bloß, daß die anderen Kinder im Ort um die Buben und Mädchen aus dem Bunker einen weiten Bogen machen - das schmerzt; und daß man selbst auf dem Omnibus, wenn man zur Arbeit fährt, plötzlich wie im leeren Raum steht, mit deutlichem Abstand zu jedem nächsten - das kränkt."
Notquartiere in Wiesbaden
Auch in der Stadt Wiesbaden lebten Vertriebene lange in Notunterkünften. Es handelte sich vor allem um Vertriebene aus dem Sudetenland. Eine solche Massenunterkunft war der sogenannte U-Bau, die einzige fertiggestellte Kaserne eines früheren militärischen Bauvorhabens im Dotzheimer Norden. Die Stadt hatte sich zwar sehr schnell für den Bau einer Siedlung auf der Kohlhecker Höhe in unmittelbarer Nähe der Kaserne eingesetzt, doch weil kein Material zu bekommen war, konnte die Wiesbadener Wohnungsbaugesellschaft ihre schon 1946 und 1947 begonnenen Siedlungshäuser erst gegen Ende des Jahres 1949 weiterbauen. Viele Flüchtlinge mußten jahrelang im U-Bau wohnen. (Dok. 12) Das enge Zusammenleben wurde noch dadurch erschwert, daß in dem Gebäude auch Werkstätten untergebracht waren, neben einer Kristallschleiferei noch eine Kammgarnspinnerei, Laborräume einer chemischen Fabrik und ein graphischer Betrieb. Schlimmer noch als die dauernde Lärmbelästigung waren die baulichen Verhältnisse. Der "Wiesbadener Kurier" skizzierte diese im März 1950 wie folgt: "Fehlende Haustüren, behelfsmäßig angelegte Holzbohlen als Treppenstufen, ebenso primitive Geländer und große Lücken im Dach bringen die 200 Menschen mit 50 Kindern in dauernde Gefahren, vom Verputz der Flurwände ist ganz zu schweigen. Im dunklen Flur des Erdgeschosses zeugen Löcher und Wasserlachen von der fehlenden Kanalisation."
Unter ähnlichen Bedingungen mußten Flüchtlinge im Fort Biehler in Mainz-Kastel hausen. Noch 1951 lebte über die Hälfte der Heimatvertriebenen in Wiesbaden in Notwohnungen (Dok. 13) oder als Untermieter. Dabei gab es aber auch kleine Verbesserungen, die damals sehr positiv empfunden wurden. Für Familie R. schien es zunächst wie ein Glücksfall, daß sie mit Kind und Großmutter aus einem umgebauten Lagerschuppen in zwei Räume einer Baracke umziehen konnte, die die Werft für ihre vertriebenen Arbeiter gebaut hatte. Obwohl die Familie auf sechs Personen anwuchs, mußte sie unter diesen Verhältnissen mehr als zehn Jahre ausharren, bis ihr Anfang der 1960er Jahre eine Wohnung zugewiesen wurde. Allerdings hatte auch ein erheblicher Teil der einheimischen Bevölkerung längere Zeit mit Notwohnungen oder sehr beengten Untermierverhältnissen vorlieb nehmen müssen. Da aber viele Heimatvertriebene eine Arbeitsmöglichkeit nur in den Städten finden konnten, nahmen sie dort auch schlechte Wohnverhältnisse in Kauf.
"Schwarzgänger"
Erschwert wurde die Situation aus der Sicht aller Beteiligten, d.h. der Flüchtlingsverwaltung, der Flüchtlinge und Vertriebenen der Jahre 1945/46, der Evakuierten und der einheimischen ansässigen Bevölkerung durch das ständige Nachströmen weiterer Arbeits- und Wohnungssuchender, nämlich der Flüchtlinge aus der sowjetischen Zone: Bis zum Frühjahr 1949 waren es 50 000. Meist handelte es sich um Jugendliche, die befürchteten, in der SBZ arbeits- oder dienstverpflichtet zu werden. Zunächst kümmerte sich die westdeutsche Flüchtlingsverwaltung gar nicht um sie. Das bedeutete, daß sie auch keinerlei Unterstützung erhielten. Erst 1949 wurde ein Aufnahmeverfahren eingerichtet. Als SBZ-Flüchtling anerkannt wurde, wer nachweisen konnte, daß er politisch verfolgt wurde. Die Anerkennungsquote lag niedrig, solange auf dem Arbeitsmarkt nur geringe Nachfrage war.
Insgesamt läßt sich für die Zeit bis 1950 feststellen, daß durch die anhaltende große Not und das Schwinden der Rückkehrhoffnungen das Verhältnis zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen und den Einheimischen angespannter wurde.
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