3. Paul Nitze und das Tufts-Memorandum vom 12. März 1952
Der Eingang der Stalin-Note vom März 1952 trug den öffentlichen Diskurs über die amerikanische »Ostpolitik« in die Truman-Administration selbst. Im State Department wurde jetzt ein Denkprozess in Gang gesetzt, der zunächst auf einen engen Zirkel beschränkt blieb, insgesamt aber dazu führte, dass die bisherige amerikanische Deutschland- und Europapolitik grundsätzlich diskutiert und auch abweichende Lösungen durchgespielt wurden. Hierbei zeigte sich, dass die für die Koordination der amerikanischen Deutschlandpolitik unmittelbar zuständige Deutschlandabteilung (Bureau of German Affairs) am wenigsten flexibel reagierte und Alternativen zu dem eingeschlagenen Integrationskurs ablehnte. Hauptkontrahent der Deutschland-Abteilung war der Politische Planungsstab, der die Behandlung der deutschen Frage weniger als ein isoliertes deutsches oder regional-europäisches Problem ansah, sondern vielmehr aus der Perspektive der globalen Auseinandersetzung zwischen den USA und der Sowjetunion bewertete. Leiter des Planungsstabes in den Jahren zwischen 1950 und 1953 war Paul M. Nitze [13]. Nitze hatte bereits in der Zeit von 1947 bis 1949 eng mit George F. Kennan, seinem Vorgänger in der Leitung des Stabes, zusammengearbeitet und war auch persönlich an den im engsten Kreise geführten Beratungen über das »Program A« im Herbst 1948 beteiligt gewesen [14].
In den ersten Diskussionen im State Department über die sowjetische Deutschlandinitiative vom 10. März 1952 brachte Nitze insofern wohl auch nicht zufällig die Möglichkeit einer alternativen, offensiven Antwort der USA ins Spiel [15]. Der Planungsstab schlug einen sofortigen, von jeglicher taktischen Rücksichtnahme absehenden Test vor, der die wirklichen Absichten der Sowjetunion in kürzester Frist aufdecken sollte. In Abstimmung mit Nitze arbeitete Robert W. Tufts, Mitarbeiter im Politischen Planungsstab [16], diese Idee aus und präsentierte am 12. März ein erstes Memorandum »Comments on Soviet Note regarding Germany« (Dokument 5) [17].
Die Stalin-Note, so das Memorandum, eröffne die Chance, jetzt die diplomatische Initiative für den Westen zurückzugewinnen. Die Sowjetunion müsse in einem »put-up-or-shut-up approach« gezwungen werden, ihre Karten auf den Tisch zu legen. Um sich nicht in endlosen Verhandlungen zu verlieren, müsse der Westen sofort einen definitiven Wahltermin (»a given date«) für gesamtdeutsche Wahlen vorgeben und die sowjetische Seite unter unmittelbaren Zugzwang setzen. Die Wahlen sollten bis spätestens 1. November 1952 stattfinden, Verhandlungen der vier Mächte über die Modalitäten müssten deshalb etwa Anfang Mai 1952 anlaufen. Zum 1. Mai 1953 sollte die neu gewählte gesamtdeutsche Regierung über die volle Souveränität verfügen, nachdem zuvor sämtliche westlichen und sowjetischen Besatzungstruppen abgezogen worden seien.
Falls die Sowjetunion diese Vorschläge zurückweise, was zu erwarten sei, werde die westliche Europapolitik als richtig bestätigt und zugleich bewiesen, dass eine Wiedervereinigung Deutschlands aufgrund der intransigenten sowjetischen Politik keine reale Alternative darstelle. Sollte die Sowjetunion aber wider Erwarten doch zustimmen und die Wiedervereinigung unter dem Vorzeichen der Neutralität zustande kommen, so sprächen aus westlicher Sicht vier Punkte für diese Lösung:
1. | Eine zukünftige gesamtdeutsche Regierung sei streng antikommunistisch, vor allem auch dann, wenn die SPD die Wahlen gewinnen werde. |
2. | Der Rückzug der Sowjetunion aus Ostdeutschland sei in der langfristigen Perspektive möglicherweise noch wichtiger als die jugoslawische Entwicklung. |
3. | Der Ausbau der Westeuropäischen Gemeinschaft, unter Einschluss von Deutschland, bleibe unter der Voraussetzung bestimmter Revisionen in der amerikanischen Europapolitik gleichwohl möglich. |
4. | Die USA könnten im Fernen Osten eine energischere Politik mit weniger Risiko als bisher verfolgen. |
Opposition gegen diesen Kurs sei, so Tufts, von zwei Seiten zu erwarten, von Adenauer (Dokument 7), der im Falle einer Wiedervereinigung mit einer SPD-Herrschaft in Deutschland rechne, und von Frankreich (Dokument 9), das ein eventuell von der Sowjetunion umworbenes, zu starkes und unabhängiges Gesamtdeutschland befürchte. Beide Adenauer und Frankreich sollten nach Tufts Vorstellung mit dem Hinweise auf die geringe Chance einer sowjetischen Annahme einerseits und die zu erwartenden Vorteile bei einer Ablehnung andererseits beschwichtigt werden.
Anmerkungen:
[13] | Zum politischen Hintergrund von Paul M. Nitze, seinem Wirken in der Truman-Administration und dem Verhältnis zu Acheson, Bohlen, Kennan etc. siehe W. Isaacson/E. Thomas: The Wise Men. Six friends and the world they made. New York 1986. |
[14] | RG 59, Records of the Policy Planning Staff (PPS) 1947-53 Box 15, 23. 9. 1948 Verbatim Transcript and Other Documents: Special Consultative Group on German Policy Questions, Meeting vom 16. 9. 1948. Nitze wurde 1949 Mitglied und stellvertretender Leiter im Planungsstab, nachdem Kennan ihn bereits im Frühjahr 1947 hinzuziehen wollte, zunächst aber am Widerstand Achesons scheiterte. 1950 übernahm Nitze die Leitung des Planungsstabes und hatte u.a. maßgeblichen Anteil an der Konzipierung der Direktive »NSC 68«, Isaacson/Thomas (wie Anm. 13), S. 485, 489 f., 495-504. |
[15] | RG 59, PPS, Country and Area Files, Box 16, 18. 3. 1952: Memorandum John H. Ferguson an Charles Bohlen u.a. |
[16] | Zur Tätigkeit von Robert W. Tufts im Planungsstab ebd., Box 9: Meetings vom 1. 11. 1949, 12.12. 1949; Box 28: Meeting vom 24. 1. 1950; Box 32: Meetings vom 11. 10. 1949, 18. 10. 1949, 1. 11. 1949, 30. 11. 1949, 1. 12. 1949, 16. 12. 1949, 11. 1., 13. 1., 18. 1., 24. 1. 1950 u.a. Siehe im übrigen FRUS, 1951 Vol. I, Washington 1979, S. 33, 37‑40, 238, 262‑263, 463 sowie FRUS, 1951, 2 Parts. Washington 1981, hier Vol. 111. 1., S. 58, 82,482. |
[17] | Am 12. März wurde im Politischen Planungsstab ein zweites, vergleichsweise weniger anspruchsvolles Memorandum von Henry Koch ausgearbeitet, dessen Betrachtung aber deshalb interessant ist, weil auch hier von einem alternativen Denkansatz ausgegangen wurde. Kochs Stellungnahme »Comments on Soviet Proposal with Respect to a German Peace Treaty« (RG 59, PPS Box 16) ließ sich weitgehend auf die sowjetischen Vorgaben ein und konstatierte, dass, selbst wenn freie Wahlen erst nach einer Aushandlung der Rahmenbedingungen für eine Wiedervereinigung stattfinden würden, in einer Lösung der deutschen Frage auf der Basis der Neutralität gleichwohl Vorteile für die westliche Position gesehen werden könnten: »This arrangement would, of course, give the Communists unwarranted influence in the determination of the character of the new unified German institutions but might be a price worth paying to achieve German unity and the withdrawal of the Red Army from East Germany [ ... ] A unified Germany with its territorial ambitions satisfied, though on the surface neutral, would in fact be favorably disposed to the West.« |
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