Martin Luthers Selbstzeugnis über seine Entwicklung zum Reformator und seine Entdeckung der "Gerechtigkeit Gottes", 5. März 1545
Martin Luther an den frommen Leser
Inzwischen hatte ich mich in jenem Jahre [1519] schon wieder der Auslegung des Psalters zugewandt, im Vertrauen darauf, daß ich durch die schulmäßige Behandlung der Briefe S. Pauli an die Römer und Galater und des Hebräerbriefs größere Übung erlangt hatte. Ich war von einer unglaublichen Sehnsucht befangen, den Verfasser des Römerbriefs kennenzulernen. Nicht als ob es mir an dem herzhaften Entschluß zu eindringender Forschung gefehlt hätte; ich stutzte einzig vor dem Worte [Röm. 1, 17] von „der Gerechtigkeit Gottes, die im Evangelium offenbart wird”. Denn dieser Begriff der „Gerechtigkeit Gottes” war mir geradezu verhaßt, weil ich gewohnt war, ihn nach dem Vorgange aller Theologen im Sinne der scholastischen Philosophie zu verstehen als die „formale oder aktive” Gerechtigkeit, vermöge deren Gott sich gerecht erweist, indem er die Sünder als die Ungerechten bestraft.
Ich aber fühlte mich, obwohl ich als Mönch ein untadeliges Leben führte, vor Gott als einen von Gewissensqualen verfolgten Sünder, und da ich nicht darauf vertrauen konnte, Gott durch meine Genugtuung versöhnt zu haben, liebte ich nicht, sondern ich haßte förmlich jene gerechte, die Sünder bestrafende Gottheit. Denn ich sagte mir: als ob es nicht genug wäre, daß die elenden Sünder, die schon durch den Fluch der Erbsünde ewiger Verdammnis preisgegeben sind, nach dem Gesetz des Alten Bundes mit allen erdenklichen Strafen heimgesucht werden, wenn nicht Gott durch das neue Evangelium die Qual noch vermehrte, indem er auch durch die Botschaft des Neuen Bundes uns nur seine zürnende und strafende Gerechtigkeit ankündigt. So marterte ich mich in der Strenge und Verworrenheit meines Gewissens; dabei aber brütete ich unablässig über jenem Ausspruch des Apostels, dessen Sinn ich mit glühender Begierde zu enträtseln suchte.
Bis nach tage- und nächtelangem Nachsinnen sich Gott meiner erbarmte, daß ich den inneren Zusammenhang der beiden Stellen wahrnahm: „Die Gerechtigkeit Gottes wird im Evangelium offenbar” und wiederum: „Der Gerechte lebt durch seinen Glauben.” Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes zu begreifen, kraft deren der Gerechte aus Gottes Gnade selig wird, nämlich durch den Glauben: daß die Gerechtigkeit Gottes, die durch das Evangelium offenbart werde, in dem passiven Sinne zu verstehen ist, daß Gott in seiner Barmherzigkeit uns durch den Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: „Der Gerechte lebt aus Glauben.” Nun fühlte ich mich geradezu wie neugeboren und glaubte, durch weit geöffnete Tore in das Paradies eingetreten zu sein. Ich ging dann die Heilige Schrift durch, soweit ich sie im Gedächtnis hatte, und fand in anderen Wendungen den entsprechenden Sinn: so ist das „Werk Gottes” dasjenige, was Gott in uns wirkt, die „Stärke Gottes” das, wodurch er uns stark macht, die „Weisheit Gottes”, durch die er uns weise macht, und so ist auch die „Kraft Gottes”, das „Heil Gottes”, die „Ehre Gottes” aufzufassen.
Je lebhafter ich also bisher das Wort von der „Gerechtigkeit Gottes” gehaßt hatte, um so liebevoller mußte ich nun diese gnadenreiche Vorstellung umfassen, und so hat mir jener Ausspruch des Apostels in der Tat die Pforten des Himmels erschlossen. Nachher las ich Augustins Schrift „über den Geist und den Buchstaben",wo ich wider Erwarten fand, daß auch dieser die Gerechtigkeit Gottes auffaßt als diejenige, die Gott uns beilegt, indem er uns rechtfertigt. Und wiewohl das noch unvollkommen gedacht ist und dieser Vor-gang der Beilegung nicht alles deutlich erklärt, war ich doch zufrieden, daß hier die Gerechtigkeit Gottes dahin erläutert wurde, daß wir durch sie gerecht gesprochen werden.
Durch solche Gedankengänge besser ausgerüstet, begann ich, die Psalmen ein zweites Mal zu erklären, und aus dieser Arbeit wäre ein umfangreicher Kommentar entstanden, wenn ich nicht im folgenden Jahre durch die Berufung vor den durch Kaiser Karl V. in Worms abgehaltenen Reichstag zu neuer Unterbrechung genötigt worden wäre.
Das aber erzähle ich dir, lieber Leser, damit du beim Durchgehen meiner Schriftchen dir vergegenwärtigst, daß ich, wie Augustin von sich selbst sagt, einer von denen gewesen bin, die sich durch Schreiben und Lehren vorwärtszubringen suchten, nicht von denen, die aus nichts mit einem Schlage alles werden, obwohl sie doch nichts gearbeitet, keine Versuchung bestanden, keine Erfahrungen gesammelt, sondern auf den ersten Anlauf sich des gesamten Inhalts der Heiligen Schrift bemächtigt haben.
Bis hierher war in den Jahren 1520 und 1521 der Ablaßstreit gediehen; ihm schlossen sich an der Abendmahlsstreit und die Kämpfe mit den Wiedertäufern .. .
Und nun Gott befohlen, lieber Leser, und bete für das Gedeihen des göttlichen Wortes trotz der Macht und List des Satans, der gerade jetzt sich wütend und grausam gebärdet...
zit. nach: Martin Luther. Eine Auswahl aus seinen Werken und Briefen mit einem Nachwort von Friedrich Seebass, Königstein Ts. 1959, S. 7-11 (Auszug)
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