Der Bruch mit Erasmus: Luther an Erasmus, [18. April?] 1524
Gnade und Friede von unserm Herrn Jesus Christus! Schon lange genug habe ich geschwiegen, bester Erasmus, und obgleich ich erwartete, daß Du als der Höherstehende und Ältere das Schweigen brechen würdest, so glaube ich doch, weil ich so lange vergebens gewartet habe, daß es die Liebe von mir verlangt, den Anfang zu machen. Zunächst will ich davon nicht reden, daß Du Dich recht befremdlich gegen uns verhalten hast, damit Dein Verhältnis zu den Papisten, meinen Feinden, nicht beeinträchtigt würde und um so besser stünde. Weiter bin ich nicht allzu sehr bekümmert gewesen, daß Du uns an einigen Stellen Deiner Bücher, um ihre Gunst zu erlangen oder ihre Wut zu besänftigen, sehr scharf angegriffen und verspottet hast. Denn da wir sehen, daß Dir vom Herrn noch nicht die Tapferkeit oder vielmehr eine solche Gesinnung gegeben ist, jenen unseren Ungeheuern frei und zuversichtlich mit uns entgegenzutreten, so erdreisten wir uns nicht, das von Dir zu fordern, was Deine Kräfte und Dein Maß übersteigt. Ja, auch Deine Schwachheit und das Maß der Gaben, die Gott Dir gegeben hat, haben wir an Dir ertragen und geehrt. Denn das kann allerdings die ganze Welt nicht leugnen, daß die Wissenschaft blüht und regiert, durch welche man dazu gelangt, die Bibel unverfälscht zu lesen. Das ist auch eine herrliche und vortreffliche Gabe Gottes an Dich, für die man Dank sagen muß. Darum habe ich zwar nie gewünscht, daß Du unter Aufgabe oder Vernachlässigung Deiner Gaben zu unserem Lager übergingest, obwohl Du der Sache durch Deinen scharfen Verstand und Deine Beredsamkeit viel hättest nützen können, so war es doch sicherer, weil Dein Herz nicht dabei ist, mit Deiner Gabe zu dienen. Nur das fürchtete man, daß Du durch die Gegner dazu veranlaßt werden könntest, durch Veröffentlichung von Büchern über unsere Lehren herzufallen, und daß uns dann die Not zwingen würde, Dir ins Angesicht zu widerstehen. Wir haben jedenfalls einige zurückgehalten, welche Dich mit schon vorbereiteten Büchern auf den Kampfplatz ziehen wollten. Und das ist auch der Grund dafür, daß ich gewünscht hätte, auch Huttens »Herausforderung« [1] wäre nicht erschienen, viel weniger aber auch Dein »Schwamm«, in welchem, wenn ich nicht irre, Du selbst schon merkst, wie leicht es ist, über die Bescheidenheit zu schreiben und an Luther die Unbescheidenheit zu tadeln, aber wie überaus schwer, ja unmöglich das auch zu leisten, es sei denn durch besondere Gabe des heiligen Geistes. Du magst es also glauben oder nicht, Christus ist mein Zeuge, daß ich herzlich Mitleid mit Dir habe, daß so vieler und so großer Leute Haß oder vielmehr Eifer gegen Dich aufgebracht ist. Daß Du davon nicht berührt würdest, kann ich nicht glauben (weil Deine menschliche Kraft einer so großen Belastung nicht gewachsen ist). Trotzdem treibt auch jene vielleicht ein gerechter Eifer, und sie meinen, Du hättest sie auf unwürdige Weise herausgefordert. Und (um es frei heraus zu sagen) da es solche Leute sind, die Deine Schärfe und Verstellung (die Du als Klugheit und Bescheidenheit angesehen wissen willst) auch nach ihrer Schwachheit nicht dulden können, so haben sie sicherlich etwas, worüber sie sich mit Recht entrüsten; wenn sie stärker wären an Geist, so würden sie es für nichts halten. Doch obwohl auch ich, der ich reizbar bin, öfters gereizt worden bin, beißender zu schreiben, so habe ich doch dieses nur gegen Hartnäckige und Zügellose getan. Übrigens meine ich, für meine Gutmütigkeit und Sanftmut gegen Sünder und Gottlose, wie wahnsinnig und ungerecht sie auch gewesen sein mögen, ist nicht nur mein eigenes Gewissen Zeuge, sondern sie ist auch durch die Erfahrung vieler hinlänglich bezeugt. So habe ich bisher meine Feder im Zaum gehalten, wenn Du mich auch noch so sehr angestochen hast, und habe sogar in Briefen an Freunde, die Du selbst auch gelesen hast, geschrieben, ich will mich bezähmen, bis Du öffentlich gegen mich aufträtest. Denn obwohl Du es mit uns nicht hältst und die meisten Hauptstücke der Gottseligkeit entweder gottlos oder gleißnerisch verwirfst oder darüber nicht urteilen willst, so kann und will ich Dir doch keine Halsstarrigkeit vorwerfen. Was soll ich aber jetzt tun? Die Sache ist auf beiden Seiten sehr erbittert. Ich wünschte (wenn ich Mittler sein könnte), daß auch jene aufhörten, Dich mit so großer Hitze anzufallen und Dich als einen betagten Mann mit Frieden im Herrn entschlafen ließen. Das würden sie, meiner Meinung nach, gewiß tun, wenn sie auf Deine Schwachheit Rücksicht nähmen und die Wichtigkeit der Sache bedächten, die über Deinen Maßstab schon längst hinausgewachsen ist. Und das besonders, weil es schon so weit gekommen ist, daß für unsere Sache wenig Gefahr zu befürchten ist, wenn Erasmus auch mit allen Kräften gegen uns stritte, geschweige, wenn er nur bisweilen Sticheleien einstreut und die Zähne zeigt. Umgekehrt wenn auch Du, lieber Erasmus, ihrer Schwachheit gedächtest, so würdest Du Dich auch Deiner beißenden und bitteren Redereien enthalten. Wenn Du das Unsere also ganz und gar nicht bekennen kannst noch es wagst, so solltest Du es doch unangetastet lassen und das Deine tun. Denn daß jene Deine Angriffe nur sehr unwillig ertragen, dazu haben sie (auch nach Deinem eigenen Urteil) einige Ursache. Denn die menschliche Schwachheit bedenkt und fürchtet gar übel das Ansehen und den Namen des Erasmus; es ist eine ganz andere Sache, einmal von Erasmus angegriffen zu sein, als von allen Papisten auf einmal angefallen zu werden. Das will ich, hochgeschätzter Erasmus, zum Zeugnis meiner aufrichtigen Gesinnung gegen Dich gesagt haben. Ich wünschte herzlich, daß Dir vom Herrn ein Deines Namens würdiger Geist gegeben werde. Und wenn der Herr es aufschiebt, ihn Dir zu geben, so bitte ich Dich unterdessen (wenn Du nichts anderes tun kannst), nur ein Zuschauer unserer Tragödie zu sein. Nur rede nicht unseren Widersachern nach dem Munde und mache nicht gemeinschaftliche Sache mit ihnen. Vor allen Dingen veröffentliche keine Schriften gegen mich, wie auch ich nichts gegen Dich veröffentlichen will. Von denen aber, die sich bemühen, unter lutherischem Namen gegen Dich loszugehen, sollst Du denken, es sind Menschen wie Du und ich, die man schonen und mit denen man Nachsicht haben muß, und wie Paulus (Gal. 6, 2) sagt »einer trage des anderen Last«. Es ist genug gebissen, wir müssen nun zusehen, daß wir uns nicht untereinander verzehren. Das wäre ein gar zu elendes Schauspiel, da es doch ganz gewiß ist, daß keiner von beiden der Gottseligkeit von Herzen feind ist und ohne Hartnäckigkeit von ihrer Seite jedem gefallen. Halte mir meine kindische Einfalt zugute und gehab Dich wohl in dem Herrn.
1 Leidenschaftliche Schmähschrift Huttens, nachdem Erasmus dem kranken Flüchtling seine Unterstützung verweigert hatte (Expostulatio cum Erasmo), Erasmus versuchte sich mit einer Gegenschrift (Spongia adversus aspergines Hutteni) zu rechtfertigen, aber nur mit sehr teilweisem Erfolg, Zwingli z.B. hat daraufhin mit Erasmus gebrochen.
WA Br 3, 270 f. Nr. 729. Lateinisch, in deutscher Übersetzung zitiert nach Kurt Aland, Luther deutsch, Bd. 10, Stuttgart 1959, S. 140-143
Dokumentenabbildung (zeitgenössische Abschrift) in: HStAM 3.2687
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