Erasmus von Rotterdam: „De libero arbitrio“ - Abhandlung über den freien Willen, September 1524
Die zunehmende Verschärfung der theologischen und politischen Lage erlaubte es Erasmus nicht, sich weiterhin aus dem Streit herauszuhalten und über die Kirchenreform in seinem Sinne vermittelnd aufzuklären (vgl. Nr. 21).[...] Sachlich gesehen muß er gegen Luther schreiben, da der reformatorische Antipelagianismus (vgl. auch Bd. 1 Nr. 910-q, 92) auch dem Bildungsideal einer >Besserung durch Belehrung< entgegengetreten war. Als den von Luther anerkannten zentralen Streitpunkt wählt er somit die Frage von Gnade und Willensfreiheit, die Luther im 36. Artikel seiner »Assertio omnium Articulorum« (1521) als Entfaltung der 13. Heidelberger These (s. Nr. 14) im Sinne der Alleinwirksamkeit Gottes zugespitzt hatte (vgl. WA 7, S. 142-149).
a) Die geheimnisvollen Tiefen der Heiligen Schrift
Es gibt nämlich in der Heiligen Schrift gewisse unzugängliche Stellen, in die Gott uns nicht tiefer eindringen lassen wollte; und wenn wir einzudringen versuchen, tappen wir desto mehr in der Finsternis, je tiefer wir eingedrungen sind, damit wir auf diese Weise einerseits die unerforschliche Majestät der göttlichen Weisheit, andererseits die Schwäche des menschlichen Geistes erkennen. Es ist so, wie Pomponius Mela [röm. Geograph (Mitte des 1. Jh.s), De chorogr. I,13,72.] von einer Höhle bei Korykos berichtet, welche zuerst durch eine gewisse angenehme Lieblichkeit anlockt und einlädt, bis diejenigen, die tiefer und tiefer eingedrungen sind, endlich ein gewisser Schrecken und die Majestät der dort wohnenden Gottheit vertreibt. Sobald man daher bis zu diesem Punkt gekommen ist, dürfte es meiner Meinung nach besonnener und frommer sein, mit Paulus auszurufen: »0 Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes, wie unerforschlich sind seine Ratschlüsse, wie unergründlich seine Wege!« [Röm 11,33] und mit Jesaja: »Wer hat den Geist des Herren bestimmt, wer als Berater ihn unterwiesen?« [Jes 40,13], als erklären zu wollen, was das Maß menschlicher Fassungskraft übersteigt. Vieles ist für die Zeit aufbewahrt, wenn wir nicht mehr durch Spiegel und in Rätseln sehen werden, sondern enthüllten Angesichtes die Herrlichkeit des Herrn betrachten werden [l Kor 13,12].
b) Erörterungen über Willensunfreiheit sind nicht notwendig, vielmehr schädlich
Was daher den freien Willen betrifft, haben wir, nach meinem Urteil wenigstens, aus der Heiligen Schrift folgendes gelernt: Wenn wir uns auf dem Weg der Frömmigkeit befinden, sollen wir eifrig nach dem Besseren streben, indem wir vergessen, was hinter uns liegt [Phil 3,13]; wenn wir in Sünden verstrickt sind, sollen wir uns mit allen Kräften herauszuarbeiten suchen, sollen wir das Heilmittel der Buße suchen und die Barmherzigkeit Gottes auf jede Weise zu erlangen trachten, ohne die weder der menschliche Wille noch sein Streben wirksam ist; und wenn etwas Böses da ist, wollen wir es uns anrechnen, wenn aber etwas Gutes, wollen wir es gänzlich der göttlichen Güte zuschreiben, der wir auch selbst dies verdanken, daß wir sind. Im übrigen wollen wir glauben, daß alles, was uns in diesem Leben widerfährt, sei es etwas Erfreuliches, sei es etwas Betrübliches, uns von jenem zu unserem Heil geschickt wird und daß keinem ein Unrecht von Gott geschehen kann, der von Natur aus gerecht ist; auch wenn uns etwas unverdient zuzustoßen scheint, darf doch niemand an der Vergebung von seiten Gottes zweifeln, der von Natur aus überaus gnädig ist: Das festzuhalten, sage ich, wäre meinem Urteil nach zur christlichen Frömmigkeit ausreichend, und man hätte nicht mit unfrommer Neugier [curiositate] in jene abgründigen Bereiche, um nicht zu sagen, überflüssigen Fragen, eindringen dürfen, ob Gott etwas nicht notwendig [contingenter] vorausweiß, ob unser Wille etwas vermag in den Dingen, die sich auf das ewige Heil beziehen, oder ob er nur passiv der wirkenden Gnade gegenübersteht, ob wir, was immer wir Gutes oder Böses tun, aus reiner Notwendigkeit tun oder eher erleiden
Wollen wir nun annehmen, daß in einem gewissen Sinne wahr sei, was Wiclif lehrte und Luther behauptete [vgl. WA 7, S. 146], daß, was immer wir tun, nicht aus freiem Willen, sondern aus reiner Notwendigkeit [mera necessitate] geschehe: was gibt es Unzweckmäßigeres, als dieses Paradox der Welt bekannt zu machen? Wiederum wollen wir einmal annehmen, es sei in einem gewissen Sinne wahr, was Augustinus irgendwo schreibt, daß Gott sowohl das Gute als auch das Böse in uns wirke und seine guten Werke in uns belohnt und seine bösen Werke in uns bestraft würden. Was für ein großes Fenster würde diese Behauptung, wenn man sie im Volke bekanntmachte, unzähligen Sterblichen zur Gottlosigkeit öffnen, besonders bei der großen Trägheit der Sterblichen, bei ihrer Gedankenlosigkeit, Bosheit und unverbesserlichen Geneigtheit zu jeder Art von Frevel? Welcher Schwache wird [dann noch] den ewigen und mühevollen Kampf gegen sein Fleisch aushalten? Welcher Böse wird [noch] danach streben, sein Leben zu bessern? Wer wird sich [noch] dazu aufraffen können, jenen Gott aus ganzem Herzen zu lieben, der die Hölle geschaffen hat, die von ewigen Qualen glüht, um dort seine eigenen Untaten in den Bedauernswerten zu bestrafen, wie wenn er sich an den Qualen der Menschen erfreute? So werden es nämlich die meisten deuten. Es sind nämlich die Herzen der Sterblichen in der Regel ungebildet und fleischlich, geneigt zum Unglauben, geneigt zu Verbrechen, geneigt zur Gotteslästerung, so daß es nicht not-wendig ist, noch Öl ins Feuer zu gießen.[...]
c) Freiheit und Gericht
Wenn ich höre, daß das Verdienst des Menschen so sehr nichtig sei, daß alle Werke auch der Frommen Sünden sind, wenn ich höre, daß unser Wille nicht mehr vermag, als der Ton in der Hand des Töpfers, wenn ich höre, daß alles, was wir tun und wollen, auf absolute Notwendigkeit zurückzuführen ist, wird mein Herz von vielen beängstigenden Überlegungen ergriffen [...] .. .
Warum wird in der Heiligen Schrift so oft das Gericht erwähnt, wenn es überhaupt keine Vergeltung für Verdienst und Schuld gibt? Oder warum werden wir gezwungen, vor den Richterstuhl zu treten, wenn nichts nach unserer Entscheidung, sondern alles aus reiner Notwendigkeit geschieht? Bedrängend ist auch jener Gedanke: wozu so viele Ermahnungen, so viele Gebote, so viele Drohungen, so viele Ermunterungen, so viele Forderungen, wenn wir nichts tun, sondern Gott nach seinem unabänderlichen Willen alles in uns wirkt, sowohl das Wollen als auch das Vollenden [Phil 2,13]! [...].. .
d) Dem freien Willen etwas, der Gnade das meiste
[...] Mir gefällt die Meinung derer, die dem freien Willen etwas [nonnihil] zuschreiben, der Gnade aber das meiste [plurimum] [...].Warum, wirst du fragen, wird dem freien Willen etwas zugestanden? Damit es etwas gibt, was den Gottlosen mit Recht [merito] zugerechnet wird, die sich willentlich der Gnade entzogen haben, damit Gott vom Vorwurf der Grausamkeit und Ungerechtigkeit unbehelligt bliebe, damit die Verzweiflung von uns ferngehalten werde, damit die Sicherheit aus-geschlossen werde, damit wir zum Bemühen angespornt werden. Aus diesen Gründen wird der freie Wille von fast allen behauptet, dieser aber ist ohne die ständige Gnade Gottes unwirksam [inefficax], damit wir uns ja nicht etwas anmaßen. Es könnte jemand sagen: »Wozu der freie Wille, wenn er nichts ausrichtet [efficiat]?« Ich antworte: »Wozu der ganze Mensch, wenn Gott so in ihm wirkt [agit], wie der Töpfer am Ton arbeitet und wie er an einem Stein hätte arbeiten können?«
Quelle: Quelle: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften 4, hg. von W. Welzig, S. 10ff.
Textauszüge zitiert nach: Heiko A. Oberman, Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. III Die Kirche im Zeitalter der Reformation, 4. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1994, S. 115-118.
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