Aus Luthers Wartburgzeit (3. Mai 1521-1. März 1522) stammt die Schrift: »De votis monasticis iudicium«, mit der er sein abschließendes Urteil über die Frage des Mönchtums darlegt. Veranlaßt wurde er zu dieser Schrift durch die Wittenberger Diskussionen um Zölibat und Mönchtum, die vor allem im Anschluß an die Heirat des Kemberger Propstes B. Bernhardi entfacht worden waren. Die Stellungnahmen Karlstadts (Super coelibatu, monachatu et viduitate axiomata. Ende Juli) und Melanchthons (Loci communes, vgl. Nr. 36) ließen ihm eine klare Begründung der Argumente gegen das Mönchtum notwendig erscheinen. — Die Vorrede, zugleich Widmungsbrief an seinen Vater, erläutert diese Grundlegung anhand seiner Lebensgeschichte als Mönch. (Heiko A. Oberman, Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. III Die Kirche im Zeitalter der Reformation, 4. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1994, S. 73)
Luthers Absage an das Mönchsgelübde. Brief an seinen Vater Hans Luther, 21. November 1521
Jesus.
Seinem Vater Hans Luther wünscht Martin Luther, sein Sohn, Segen in Christus.
Daß ich Dir, lieber Vater, dieses Buch widme, ist nicht in der Absicht geschehen, Deinen Namen in der Welt hoch zu erheben, auch nicht, um uns, der Lehre des Paulus (Gal. 6, 13) entgegen, zu rühmen. Ich möchte vielmehr diese für Dich und mich günstige Gelegenheit ergreifen, den frommen Lesern in einer kurzen Vorrede Anlaß, Gegenstand und Absicht dieses Buches zu erzählen.
Um damit anzufangen: ich will Dir nicht verbergen, daß Dein Sohn jetzt ganz fest zu der Überzeugung gekommen ist, daß es nichts Heiligeres, Wichtigeres und Gerechteres gibt als Gottes Gebot. O Jammer, wirst Du sagen, hast Du denn jemals daran gezweifelt und erst jetzt gelernt, daß es so ist? Ich dagegen sage: o großes Glück (daß ich es überhaupt gelernt habe)! Ich habe nämlich nicht nur daran gezweifelt, sondern ganz und gar nichts davon gewußt, daß es so ist. Wenn Du erlaubst, will ich sogar zeigen, daß Du offensichtlich mit mir in der gleichen Unwissenheit gewesen bist.
Es sind nun fast sechzehn Jahre her, seit ich gegen Deinen Willen und ohne Dein Wissen Mönch geworden bin. In väterlicher Sorge wegen meiner Anfälligkeit — ich war ein Jüngling von eben zweiundzwanzig Jahren, d. h. um mit Augustin zu sprechen, in glühender Jugendhitze — fürchtetest Du für mich, denn an vielen ähnlichen Beispielen hattest Du erfahren, daß diese Art zu leben manchem zum Unheil gereicht hatte. Deine Absicht war es sogar, mich durch eine ehrenvolle und reiche Heirat zu fesseln.
Diese Sorge um mich beschäftigte Dich. Auch war Dein Unwille gegen mich (nach dem Eintritt ins Kloster) eine Zeitlang nicht zu besänftigen. Vergeblich redeten Dir die Freunde ein: Du solltest doch, wenn Du Gott etwas opfern wolltest, ihm Dein Teuerstes und Bestes darbringen. Inzwischen ließ Gott ein Psalmenwort (Ps. 94, 11) in Deine Gedanken hineinklingen: »Der Herr weiß die Gedanken der Menschen, daß sie eitel sind« — aber er predigte tauben Ohren. Endlich aber gabst Du doch nach und fügtest Dich dem Willen Gottes — aber ohne deswegen die Sorge um mich aufzugeben. Denn ich erinnere mich, als wäre es heute: Du sprachst schon wieder besänftigt mit mir. Da versicherte ich Dir, daß ich vom Himmel durch Schrecken gerufen, nicht etwa freiwillig oder auf eigenen Wunsch Mönch geworden sei. Noch viel weniger wurde ich es um des Bauches willen, sondern von Schrecken und der Furcht vor einem plötzlichen Tode umwallt legte ich ein gezwungenes und erdrungenes Gelübde ab. Da sagtest Du: »Möchte es nur nicht eine Täuschung und ein Blendwerk gewesen sein!« Dieses Wort drang — als wenn Gott durch Deinen Mund gesprochen hätte — in mich ein und setzte sich in meinem Innersten fest. Aber ich verschloß mein Herz, so gut ich konnte, gegen Dich und Dein Wort. Du sagtest auch noch etwas anderes. Als ich Dir in kindlichem Vertrauen Deinen Unwillen zum Vorwurf machte, da wiesest Du mich sofort in meine Schranken und tatest das so im rechten Augenblick und so treffend, daß ich in meinem ganzen Leben kaum von einem Menschen ein Wort gehört habe, das mächtiger auf mich gewirkt und fester in mir gehaftet hätte. Du sagtest nämlich: »Hast Du etwa auch noch nicht gehört, daß man seinen Eltern gehorchen soll?« Da habe ich das — in Selbstgerechtigkeit sicher — als Menschenwort) gehört und kräftig verachtet; denn aus innerer Überzeugung konnte ich dies Wort nicht verachten.
Hier siehe nun, ob nicht auch Du nicht gewußt hast, daß man Gottes Gebote allen anderen Dingen voranstellen muß. Wenn Du gewußt hättest, daß ich damals noch ganz in Deiner Hand war, hättest Du mich nicht kraft Deiner väterlichen Autorität ganz aus der Mönchskutte heraus-gerissen? Ebenso ich: wenn ich das gewußt hätte, hätte ich es ohne Dein Wissen und gegen Deinen Willen nicht versucht, auch wenn ich viele Tode darüber hätte sterben müssen. Denn mein Gelübde war keinen Heller wert, weil ich mich dadurch der väterlichen Gewalt und dem Willen des göttlichen Gebots entzog. Ja, es war sogar gottlos. Daß es nicht aus Gott sein konnte, erwies sich nicht nur daran, daß es gegen Deine Autorität sündigte, sondern auch daran, daß es nicht frei und willig gegeben war. Weiterhin geschah es im Vertrauen auf menschliche Lehren und heuchlerischen Aberglauben, die Gott nicht geboten hat. Aber Gott, dessen Barmherzigkeit unendlich und dessen Weisheit ohne Ende ist — siehe, wieviel Gutes er aus all diesen Irrtümern und Sünden hat erstehen las-sen! Wolltest Du jetzt nicht lieber hundert Söhie verloren, als dieses Gute (Endresultat) nicht gesehen haben? An-scheinend hat der Satan an mir seit meiner Kindheit etwas von dem vorhergesehen, was er jetzt leidet. Deshalb war er mit unglaublichen Mitteln darauf aus, mich umzubringen und mich zu fesseln, so daß ich mich öfters gewundert habe, ob ich es allein unter den Sterblichen sei, auf den er es abgesehen habe. Der Herr aber hat (das sehe ich jetzt) gewollt, daß ich die »Weisheit« der hohen Schulen und die »Heiligkeit« der Klöster aus eigener, sicherer Erfahrung, d. h. an vielen Sünden und Gottlosigkeiten kennenlernen sollte. Die gottlosen Menschen sollten keine Gelegenheit erhalten, von mir als ihrem zukünftigen Gegner hochfahrend zu behaupten, ich verdammte Dinge, die ich nicht kennte. Ich habe also als Mönch gelebt, zwar nicht ohne Sünde, aber doch ohne Schuld. Denn Gottlosigkeit und Lästerung werden im Bereich des Papstes als hohe Frömmigkeit angesehen, keinesfalls gelten sie als schuldhafte Vergehen.
Was meinst Du also jetzt? Willst Du mich jetzt noch herausreißen? Noch bist Du Vater, noch bin ich Sohn, und alle Gelübde haben keine Bedeutung. Auf Deiner Seite steht göttliche Autorität, auf meiner Seite steht menschliche Vermessenheit. Denn nicht einmal die Enthaltsamkeit, die sie mit vollem Munde rühmen, gilt etwas ohne den Gehorsam gegen Gottes Gebot. Enthaltsamkeit ist nicht geboten, Gehorsam aber ist geboten. Dennoch wollen die unsinnigen und albernen Papisten nicht dulden, daß dem jungfräulichen Stande und der Enthaltsamkeit etwas gleichgestellt werde. Sie rühmen beides mit wunderlichen Lügen, aber gerade ihr unsinniges Lügen und ihre maßlose Unwissenheit — beides zusammen und jedes für sich — sollten doch das alles verdächtig machen, was sie tun und meinen. Denn was ist das für eine Weisheit, wenn sie das Wort (Jes. Sir. z6, 20 nach der Vulgata): »Nichts kommt einer keuschen Seele gleich« so verdrehen, daß es scheint, als seien der jungfräuliche Stand und die Enthaltsamkeit allem vorzuziehen, und dieser Stand sei unveränderlich und es gäbe keine Befreiung davon? Dabei ist doch dieses Wort von einem Juden zu Juden über eine keusche Ehefrau geschrieben; denn bei den Juden galten Jungfräulichkeit und Enthaltsamkeit als etwas Verdammenswertes. So beziehen sie auch das Wort (Weish. Sal. 3, 13); »Sie ist es, die kein Ehebett in Sünden gekannt hat«, das doch die Keuschheit der Ehefrau rühmen soll, auf Jungfrauen. Kurz, während die Jungfräulichkeit in der heiligen Schrift nicht gepriesen, sondern nur bestätigt wird, wird sie mit dem Glanz der ehelichen Keuschheit wie mit fremden Federn gerade von denen geschmückt, welche bereit sind, die Seelen (zu Dingen) zu entflammen, die Gefahr für ihre Seligkeit bedeuten. Ist es etwa nicht so, daß einer gehorsamen Seele nichts Gleichwertiges an die Seite zu stellen ist?
Gerade deswegen hält nichts den Vergleich mit einer keuschen Seele aus, d. h. mit einer züchtigen Ehefrau. Und das nicht nur deswegen, weil das ein Befehl Gottes ist, sondern weil — wie es in einem bekannten Sprichwort heißt — es für die Menschen nichts Begehrenswerteres gibt als eine züchtige Ehefrau. Aber jene zuverlässigen Schriftausleger beziehen das, was von der befohlenen Enthaltsamkeit gesagt wird, auf die nicht gebotene, und machen aus einer Wertschätzung durch Menschen eine Hochschätzung durch Gott. Deshalb geben sie von allem Dispens — auch von dem Gehorsam gegen Gott. Aber von der Enthaltsamkeit, auch wenn sie verboten ist, wenn sie nämlich gegen die Autorität der Eltern übernommen ist, dispensieren sie nicht. O diese würdigen und wahrhaft papistischen Doktorlein und Magisterlein! Jungfräulichkeit und Keuschheit sind zu preisen, aber doch so, daß durch ihre Größe die Menschen mehr abgeschreckt als angezogen werden. So hat Christus, als seine Jünger die Enthaltsamkeit rühmten und sprachen (Matth. 19, 10): »Steht die Sache eines Mannes mit seinem Weibe also, so ists nicht gut zu heiraten«, sie alsbald zurückgewiesen und gesagt (Matth. 19, 11). »Das Wort faßt nicht jedermann.« Fassen muß man das Wort, er wollte aber, daß es nur von wenigen verstanden würde.
Doch zurück zu Dir, lieber Vater! Ich frage nochmals, willst Du mich noch herausreißen? Aber damit Du Dich nicht rühmst: der Herr ist Dir zuvorgekommen und hat mich selbst herausgerissen! Was ist schon dabei, ob ich Kutte oder Tonsur trage oder nicht? Machen etwa die Kutte und Tonsur einen Mönch? Paulus sagt (1. Kor. 3, 22 f.): »Alles ist euer, ihr aber seid Christi«, und ich sollte der Kutte angehören und nicht vielmehr die Kutte mir? Mein Gewissen ist frei geworden, d. h. aufs gründlichste frei. Daher bin ich zwar ein Mönch und bin es doch auch wieder nicht. Ich bin eine neue Kreatur, nicht des Papstes sondern Christi. Denn auch der Papst erschafft Kreaturen, aber Puppen und Pappen, d. h. ihm ähnliche Larven und Götzenbilder. So etwas bin ich früher auch gewesen, in die Irre geführt durch den mancherlei Gebrauch der Worte, durch den auch der Weise — wie er (Jes. Sir. 34, 12 f.) sagt — in Lebensgefahr geraten ist, aber durch die Gnade Gottes wurde er daraus erlöst. Aber beraube ich Dich etwa wiederum Deines Rechtes und Deiner Gewalt? Fürwahr, Deine Gewalt über mich bleibt hier ganz unangetastet, soweit sie sich auf das Mönchsleben bezieht. Aber dieses bedeutet — wie ich bereits gesagt habe — nichts mehr für mich. Im übrigen hat der, welcher mich herausgezogen hat, ein größeres Recht über mich als Du. Wie Du siehst, hat er mich nicht für den heuchlerischen Mönchsdienst, sondern zum wahren Gottesdienst bestellt. Denn wer könnte wohl daran zweifeln, daß ich im Dienste des Wortes stehe? Und das ist wahrlich ein Dienst, vor dem sich die Autorität der Eltern beugen muß. Christus sagt (Matth. 10, 37): »Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, der ist mein nicht wert.« Nicht, daß durch dieses Wort die Autorität der Eltern entleert würde. Der Apostel schärft es doch oft genug ein, daß die Kinder den Eltern gehorchen sollen (Eph. 6, 1; Kol. 3, 20). Aber wenn die Berufung und die Autorität der Eltern und die Christi einander widerstreiten, dann soll allein die Autorität Christi gelten. Daher müßte ich Dir bei Gefahr meines Gewissens gehorchen (davon bin ich ganz fest überzeugt), wenn nicht über den Mönchsdienst hinaus noch der Dienst am Wort hinzugekommen wäre. Darauf wollte ich hinaus, als ich sagte, weder Du noch ich hätten früher gewußt, daß Gottes Gebote allen anderen voranzustellen sind. Aber fast die ganze Welt leidet an dieser Unwissenheit; dieser Irrtum hat sich unter dem Greuel Papsttum breit gemacht. Das hat auch Paulus vorhergesagt (2. Tim. 3, 2): es würde Menschen geben, die den Eltern ungehorsam sind. Das trifft genau auf die Mönche und Priester zu, besonders auf die, welche sich unter dem Schein der Frömmigkeit und der Ergebenheit Gott gegenüber der Autorität der Eltern entziehen — als ob es einen anderen Dienst Gottes geben könnte, als seinen Geboten zu gehorchen, zu denen der Gehorsam gegen die Eltern gehört.
Ich schicke Dir daher dieses Buch, damit Du daraus sehen kannst, durch welche Zeichen und Kräfte Christus mich vom Mönchsgelübde erlöst und mich mit einer so großen Freiheit beschenkt hat, daß ich — obwohl jedermanns Knecht — niemandem untertan bin als ihm allein.
Denn er ist mein unmittelbarer (wie sie es nennen) Bischof, Abt, Prior, Herr, Vater und Lehrer. Einen anderen kenne ich nicht mehr. So hoffe ich: wenn er Dir auch einen Sohn entrissen hat, wird er doch anfangen, vielen anderen mit ihren Söhnen durch mich zu helfen. Das darfst Du nicht nur gerne hinnehmen, sondern Du solltest Dich dessen vielmehr freuen. Und ich bin fest davon überzeugt, daß das bei Dir so ist. Aber was, wenn mich der Papst tötet oder mich in die äußerste Hölle verdammt? Den Getöteten kann er nicht wieder auferwecken, daß er mich zwei-oder mehrmals töte. Hat er mich aber verdammt, so will ich, daß er mich niemals absolviere. Denn ich vertraue darauf, daß jener Tag nahe bevorsteht, an dem dieses Reich des Greuels und Verderbens zerstört wird. O wenn wir doch zuvor wert erachtet würden, von ihm verbrannt und getötet zu werden! Dann würde unser Blut um so mehr danach verlangen und darauf drängen, das Urteil über ihn zu beschleunigen. Wenn wir aber nicht gewürdigt werden, mit unserm Blut Zeugnis abzulegen, so wollen wir wenigstens um die Barmherzigkeit bitten und flehen, mit unserm Leben und unsern Worten zu bezeugen, daß Jesus Christus allein der Herr unser Gott ist, gebenedeit von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen.
In ihm lebe wohl, liebster Vater, und grüße meine Mutter, Deine Margaretha, samt der ganzen Verwandtschaft in Christus.
Aus der Einöde, den 21. November 1521.
WA 8, 573ff. Zit. nach: Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, hg. von Kurt Aland, Bd. 2, Göttingen 1981, S. 323-329
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