Andreas Osiander: Vorrede zu Nikolaus Kopernikus »De revolutionibus orbium coelestium« (1543)
Nikolaus Kopernikus hatte sein Hauptwerk z.T. bereits 1514 als Manuskript vorliegen; publiziert wurde es aber erst 1543 (s. Nr. 97, bes. Anm. 3). Andreas Osiander (vgl. Nr. 79) wollte durch sein Vorwort dem neuen Weltsystem in der Bildungsschicht Zugang verschaffen; er charakterisierte es dazu als astronomisches Denkmodell, das im Gegensatz zu einer Tatsachenbeschreibung von >Hypothesen' ausgeht.
An den Leser über die Hypothesen dieses Werks.
Sicherlich werden manche Gelehrte bei dem bereits weit verbreiteten Ruf dieser neuen Hypothesen großen Anstoß an den Lehren dieses Buches genommen haben, daß nämlich die Erde sich bewege, die Sonne dagegen unbeweglich in der Mitte des Weltalls ruhe; man urteilt wohl allgemein, man dürfe die Wissenschaft, deren Fundamente schon im Altertum richtig begründet wurden, nicht in Verwirrung bringen.
Allein bei reiferer Überlegung wird man finden, daß der Autor dieses Werks nichts Tadelnswürdiges unternommen habe. Denn es ist die eigentliche Aufgabe des Astronomen, die Geschichte der Bewegungen am Himmel, nach sorgfältigen und genauen Beobachtungen, festzustellen. Sodann muß er die Ursachen dieser Bewegungen ermitteln, oder wenn er schlechterdings die wahren Ursachen nicht auszufinden vermag, beliebige Hypothesen ausdenken und zusammenstellen, vermittels deren man jene Bewegungen nach geometrischen Sätzen, sowohl für die Zukunft als auch für die Vergangenheit, richtig zu berechnen vermag. Beide Forderungen hat der Meister in exzellenter Weise erfüllt.
Allerdings ist es nicht erforderlich, daß seine Hypothesen wahr sind; sie brauchen nicht einmal wahrscheinlich zu sein. Es reicht schon vollkommen aus, wenn sie zu einer Berechnung führen, die den Himmelsbeobachtungen gemäß ist .. . Genugsam bekannt ist ja, daß die Astronomie die Ursachen der anscheinend ungleichmäßigen Bewegungen schlechterdings nicht kennt. Wenn die Wissenschaft aber dergleichen hypothetisch ersinnt — und sie hat solche Hypothesen wirklich in großer Zahl ersonnen — so ersinnt sie dieselben keineswegs mit dem Anspruche, irgendjemanden zu überreden, daß die Sache sich wirklich so verhalte; es soll eben nur eine richtige Grundlage für die Berechnung aufgestellt werden. Da ferner eine und dieselbe Bewegung zuweilen durch verschiedene Hypothesen zu erklären ist (wie z.B. die Bewegung der Sonne durch die Annahme der Exzentrizität oder des Epizykels), so wird der Astronom am liebsten derjenigen folgen, welche die leichtest verständliche ist. Der Philosoph [= Physiker] wird vielleicht eine größere Wahrscheinlichkeit verlangen. Keiner von beiden wird jedoch etwas Gewisses zu ermitteln oder zu lehren imstande sein, wenn es ihm nicht durch göttliche Offenbarungen enthüllt worden ist.
Gestatten wir demnach, daß auch die nachfolgenden neuen Hypothesen den alten angereiht werden, welche um nichts wahrscheinlicher sind. Sie sind überdies wirklich bewundernswert und leicht faßlich; außerdem finden wir hier einen großen Schatz der gelehrtesten Beobachtungen.
Übrigens möge niemand in Betreff der Hypothesen Gewißheit von der Astronomie erwarten. Sie vermag diese nicht zu geben.
Quelle: Nikolaus Kopernikus, Gesamtausgabe, hg. von der Kopernikus-Kommission, 2, 1949, S. 403–404; übers. nach: H. Kesten, Copernicus und seine Welt. Biographie, 1973, S. 301–302.
Textauszüge zitiert nach: Heiko A. Oberman, Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Bd. III Die Kirche im Zeitalter der Reformation, 4. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1994, S. 204-205
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