"Als ich mit meiner Frau und meinem Sohn 1945 aus dem Konzentrationslager Theresienstadt nach Marburg/Lahn zurückkehrte, hofften wir, an unserem früheren Wohnsitz wieder ein normales Leben führen zu können, ähnlich dem, vor der Judenverfolgung. Das erwies sich indessen als unmöglich. Das Geschäft, das ich früher betrieben hatte, setzte ein Anlagekapital voraus. Ich war aber durch die Judenverfolgung mittellos geworden und erhielt bei der Rückkehr kein Ersatzkapital, hatte damals, wie man mir sagte, nicht einmal einen Rechtsanspruch auf Schadenersatz. Ebensowenig fand ich eine Möglichkeit, mir das nötige Geld zu angemessenen Bedingungen auf längere Zeit zu leihen. Dazu kam: das Geschäft selbst war in meinem Fach durch die Ausmerzung aller jüdischen Viehhändler ganz in die Hände von Nichtjuden gelangt. Es hätte auf lange Zeit hinaus einer außerordentlichen Kraftanstrengung meinerseits bedurft, meine Existenz wiederaufzubauen. Ich mußte aber bald erkennen, daß die schlimmen Jahre, die ich durch die Judenverfolgung schon in Marburg, und die schlimmeren, die ich im Konzentrationslager verbracht habe, mich stark und nicht nur vorübergehend so geschwächt hatten, daß ich nicht einmal ein normales Maß von Arbeit leisten konnte. Auch unser Sohn sah seine Hoffnung auf eine wirtschaftliche Zukunft bald getäuscht. Er hatte wegen der Judenverfolgung nur die jüdische Volksschule in Marburg besuchen dürfen und nachher keine Berufsausbildung erhalten können. Im Konzentrationslager beschäftigte man ihn mit elektrischen Anlagen, so daß er im Laufe der Jahre in diesem Fach praktische Kenntnisse erworben hatte. Er bemühte sich nach seiner Rückkehr um die Zulassung zur Gesellenprüfung und um weitere Ergänzung seiner Fachbildung, aber ohne Erfolg. Er sollte mit 19 Jahren sich um eine Lehrstelle mit gewöhnlicher Lehrzeit bemühen und auch in der Schule von unten anfangen mit den viel jüngeren Kindern. Er mußte fort, und von unserem einzigen Kind uns zu trennen, wäre uns sehr schwer gefallen. Entscheidend aber war unsere menschliche Vereinsamung. Es zeigte sich, daß wir die einzigen Juden - von früher etwa 200 - waren, die nach Beendigung der Verfolgung nach Marburg zurückkamen, während die Trennung zwischen Juden und Nichtjuden die Nazizeit überdauerte. Ein jeder von uns dreien brauchte unter den damals allgemein zerrütteten Verhältnissen, bei unserer großen Schwäche, dem Mangel der gewohnten Arbeit aber mehr als je menschliche Anlehnung, Aussprache über unsere Probleme in vollem Vertrauen und gegenseitige Hilfe. Nichts schien auf baldige Besserung zu deuten. Die Juden aus den Ostländern, die sich in Marburg eingefunden hatten, bereiteten, wie ich hörte, meist ihre Auswanderung vor. So kamen wir nach vielen Überlegungen und Enttäuschungen zu dem Ergebnis, daß für uns in Marburg keine Zukunft sei, und erst recht nicht anderswo in Deutschland, wo wir nicht einmal die äußeren Verhältnisse kannten. Meine Frau hat eine Schwester in Chicago, die rechtzeitig dorthin ausgewandert war. Wir wandten uns an sie und hörten, daß wir dort nicht nur Verwandte und alte Bekannte, Freundschaft und notfalls Hilfe erwarten konnten, sondern auch nach Maßgabe unserer Kräfte Arbeit, insbesondere unser Sohn nach kurzer Ergänzung seiner Schulung Aussicht auf Facharbeit. Unter diesen Umständen haben wir uns schließlich entschieden, von der uns durch die Verwandten gebotenen Gelegenheit zur Erlangung eines Visums Gebrauch zu machen, und sind im September 1946 ausgewandert."
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