Jüdisches Alltagsleben: Eine Hochzeitsfeier in Mainz, um 1427
... Am Hochzeitstage — am Freitag — wird die Gemeinde durch den Synagogendiener zum Gottesdienste zusammengerufen und zugleich zum Meien (Reigen) eingeladen. Der Rabbiner, unter Vorantritt des Bräutigams, und die ganze Gemeinde begeben sich, von Fackelträgern und Musik begleitet, nach dem Synagogenhofe. Das Geleite kehrt dann zurück, um die Braut, die von ihren Freundinnen umgeben ist, dem Bräutigam zuzuführen. Ist der Zug an der Pforte des Synagogenhofes angelangt, begibt sich der Bräutigam, von dem Rabbiner und den angesehensten Männern der Gemeinde geführt, hin zur Braut, ergreift ihre Hand, und alle Anwesenden bestreuen das Brautpaar mit Weizenkörnern und rufen ihnen dreimal zu: „Seid fruchtbar und mehret euch!” Hand in Hand gehen nun Braut und Bräutigam zur Synagogentür, woselbst sie sich auf einige Augenblicke niederlassen. Die Braut wird sodann heimgeleitet, um sich mit den Hochzeitsgewändern zu schmücken, über welche sie das Serganeum (Totengewand) anzieht, dann ihr Gesicht mit einem Schleier verhüllt und statt des Mantels die Kürsen (ein mit Pelz verbrämtes Gewand) anlegt. Der Bräutigam dagegen, in sabbatliche Gewänder gekleidet, mit der Mitra (einer Art Kapuze), die er, zur Erinnerung an die Zerstörung des Tempels, in einer von der gewohnten Art abweichenden Form trägt, auf dem Kopfe, begibt sich nach der Synagoge, und nachdem er neben der heiligen Lade an der nordöstlichen Seite Platz genommen, beginnt der Morgengottesdienst in gewohnter Ordnung, nur, dass das Tachänungebet nicht verrichtet wird.
Die Trauungsfeierlichkeiten gehen in Mainz bald nach dem Morgengottesdienste vor sich. Die Verwandten des Brautpaares und der Rabbiner erscheinen zu demselben in sabbatlichen Gewändern. Den für den Sabbat bestimmten Tallis legte R. Jakob Möllin nur zum Hochzeitsfeste seiner Tochter an. Nun wird die Braut unter Musikbegleitung bis zur Synagogenpforte gebracht, verweilt jedoch dort, bis der Rabbiner den Bräutigam die Bima (Estrade in der Mitte) hinangeführt hat. Der Rabbiner streut dem Bräutigam unter die Mitra an die Stelle, an welche die Tefillin angelegt werden, zur wehmütigen Erinnerung an die Zerstörung Jerusalems, Asche und holt, von den achtbarsten Männern der Gemeinde begleitet, die Braut. Der Rabbiner führt sie zum Bräutigam und stellt sie ihm zur Rechten im Hinblick auf den Vers der Schrift: „Es steht die Gemahlin dir zur Rechten in Gold von Ophir” (Psalm 45, 10). Das Brautpaar wird mit dem Antlitz nach Süden gestellt, zu seiner Seite sind die beiden Mütter oder an deren Stelle die nächsten Verwandten. Als Symbol des Trauzeltes wird der Kopf der Braut mit dem Zipfel der Mitra des Bräutigams bedeckt. — R. Jakob Möllin bediente sich bei der Trauung seiner Tochter des Saumes des Schleiers und bedeckte mit ihm den Kopf von Braut und Bräutigam, des Verses gedenkend: „Sie (Rebekka) nahm den Schleier und bedeckte sich mit ihm”. —
Sodann beginnt der Trauungsakt, für welchen zwei Kelche, mit Wein gefüllt, bereitgestellt sind; der eine ist für die zwei Benediktionen bestimmt (Birchat Erussin), die vor dem eigentlichen Trauungsakte gesprochen werden, der andere für die sieben Benediktionen (Birchat Nissuin), die ihm nachfolgen ... Nachdem Bräutigam und Braut von dem ersten Weinkelch getrunken, zeigt der Rabbiner den beiden Zeugen den Trauring und bemerkt, dass er sicherlich den Wert einer Peruta habe, was sie (die Zeugen) bejahen. Nachdem sich der Rabbiner noch über das vorgeschriebene Alter der Braut Sicherheit verschafft, steckt der Bräutigam, die Weiheformel für das Ehebündnis sprechend, der Braut den Ring an den Zeigefinger. Die Ketuba wird nicht verlesen, aber deren Echtheit von den Zeugen bestätigt. Während der Rabbiner die Birchat Nissuin spricht, wendet er sich mit dem Angesicht gegen Osten, bei der Benediktion: „Erfreuen mögest du, o Herr, die trauten Genossen”, dem Brautpaare zu. Nach Schluss der Benediktion trinken Braut und Bräutigam aus dem ihnen dargereichten Kelche, den sodann der Bräutigam, sich nach Norden wendend, an die Wand schleudert und zerschellt. — Die Hochzeitsfeierlichkeiten dauerten sieben Tage.
R. Jakob beiz Meir Möllin Halevi (Maharil). Rabbiner in Mainz, zuletzt in Worms, dort gestorben 142\'7. Aus: Minhagim [„Bräuche"]. Julius Höxter, Quellenlesebuch zur jüdischen Geschichte und Literatur. III. Teil, Frankfurt a.M. 1927, S. 110-112
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