Stalins jähe Wendung. Leitartikel von Paul Sethe, dem Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, am 12. März 1952. FAZ Nr. 61, 12.3.1952, S. 1
Der erste Eindruck bei der Lektüre der sowjetischen Dokumente, in denen der neueste diplomatische Vorstoß aus dem Kreml erläutert wird, ist der des Gespenstischen. Dies also ist möglich? Ist es wirklich noch nicht acht Jahre her, daß das Reich völlig zu Boden geworfen wurde, daß seine Soldaten verfemt und daß sich alle mächtigen Staaten der Welt darin einig waren, niemals, niemals wieder dürfe eine deutsche Wehrmacht auferstehen? Mit einer wahrhaft rasenden Eile scheint die Zeit darüber hinwegzuschreiten. Schon seit Jahren erleben wir, daß die Mächte des Westens die Deutschen auffordern, eben die Waffen wieder zu tragen, die ihnen für immer aus der Hand geschlagen sein sollten. Und gestern nun sahen wir, wie das mächtige russische Reich, das eben noch der erbittertste Gegner der deutschen Wiederbewaffnung gewesen war, den großzügigsten Vorschlag zu einer Friedensregelung mit Deutschland zu machen schien: ein ungeteilter Staat, Freiheit für alle, deutsche Souveränität, ungehemmte Entwicklung der deutschen Wirtschaft, gleiches Recht für Berufssoldaten und frühere Nationalsozialisten, und als überraschendstes: eine eigene deutsche Wehrmacht mit einer eigenen deutschen Waffenproduktion. Die Welt hat in den letzten Jahrzehnten mehr als eine plötzliche Wendung der sowjetischen Politik kennengelernt; keine doch war so jäh wie diese ...Die Einheit
Die Ursache des diplomatischen Vorgehens der Moskauer Regierung liegt in ihrer Besorgnis davor, Deutschland könne politisch und militärisch in das System des Westens einverleibt werden. Dies zu verhindern, hat sie seit anderthalb Jahren einiges getan und noch mehr versprochen. In dieser Beziehung ist ihr Schritt von gestern nur eine Fortsetzung der Politik, die in den Briefen des Ministerpräsidenten Grotewohl zum Ausdruck kam. Sie wiederholen jetzt das Zugeständnis, das sie schon mehr als einmal haben machen lassen: die Herstellung der deutschen Einheit. Aber wieder finden sich über die Voraussetzung dieser Einheit nur höchst unklare Andeutungen in ihren Dokumenten. Gerade dieser Punkt bedürfte aber noch der genauesten Klärung. Die Sowjetunion müßte wissen, daß sie dem Verdacht ausgesetzt ist, den gesamtdeutschen Staat nur schaffen zu wollen, um Gesamtdeutschland zu bolschewisieren. Sie müßte wissen, daß uns dieser Preis zu hoch ist. Eben deshalb müßte sie auch, wenn sie es aufrichtig meint, endlich klarlegen, daß sie die Voraussetzungen für freie Wahlen schaffen will.
Man sollte auf der anderen Seite doch wohl aufhören, von den Sowjets die Zulassung der Kommission der Vereinten Nationen zu fordern, die prüfen soll, ob jetzt schon die Voraussetzungen für freie Wahlen gegeben sind. Alle Welt weiß, daß in Mitteldeutschland der Terror herrscht; gerade deshalb haben die Sowjets die Zulassung der Kommission abgelehnt. Gewiß ist eine internationale Kontrolle nötig, aber es genügt, wenn diese die Voraussetzungen für die Zukunft schafft. Das sollte man den Russen vorschlagen; wenn sie dies ablehnen, ist alles geklärt ...
Verhandeln!
Im ganzen ist es zu einem abschließenden Urteil wohl noch zu früh. Die Schriftstücke sind wichtig genug, daß sie sorgfältig geprüft werden müssen. Es gibt viele Bedenken, das wurde hier eben noch gesagt. Aber man darf seine Einwände nicht äußern, ohne gleich hinzuzufügen, daß man sich mit ihnen nicht begnügen darf. Eine einfache Ablehnung würde bei uns niemand verstehen. Mißtrauen gegenüber den Sowjets ist immer sehr naheliegend. Aber angesichts dessen, was auf dem Spiele steht, möchte man wünschen, die Diplomatie der Westmächte würde die Gelegenheit stärker als in den letzten Jahren benutzen, um in genauen Verhandlungen zu prüfen, welchen Wert eigentlich die russischen Vorschläge haben. Es ist möglich, daß die russischen Vorschläge wieder nur ein diplomatisches Scheingefecht bedeuten. Aber die Wahrheit wirklich mit äußerster Klarheit festzustellen, ist ohne eine gewisse diplomatische Aktivität auch der Westmächte kaum möglich. An ihre politische Phantasie und ihre Verhandlungskunst werden jetzt hohe Anforderungen gestellt. Kaum nötig zu sagen, daß dies auch für die Bundesrepublik gilt.
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