Die französische Haltung zur Stalin-Note mit einem Kommentar des britischen Außenministers Sir Anthony Eden. Aufzeichnung des stellvertretenden Un- terstaatssekretärs im Londoner Foreign Office, Frank Roberts, über ein Gespräch mit dem französischen Gesandten de Crouy-Chanel, 14. März 1952.
Englischer Originaltext abgedruckt bei R. Steininger, Eine Chance zur Wiedervereinigung?, Bonn 1985, S. 136. Faksimilewiedergabe in: Ders., Deutsche Geschichte 1945-1961, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1983, S. 417 f.
Gesamtdokument ins Deutsche übertragen von R. Neebe:
Der französische Gesandte versicherte mir die französische Zustimmung zu unseren Vorschlägen ... Er trug mir die wichtigsten Passagen aus einem langen Telegramm vor, das er gerade aus Paris erhalten hatte. Vielleicht der wichtigste Punkt, der vom Quai d'Orsay [Sitz des französischen Außenministeriums in Paris] angeführt wurde, war, daß wir sehr vorsichtig sein müßten, damit wir nicht in eine Position gerieten, in der freie Wahlen stattfinden, eine neutralisierte deutsche Regierung (vielleicht eine Schumacher-Regierung) in Berlin etabliert und danach weitere Fortschritte in Richtung auf einen Friedensvertrag gemacht würden, wie in Österreich. Dies würde bedeuten, daß wir alle Vorteile der EVG, der Westlichen Integration etc. verloren hätten. Dagegen käme ein geeinigtes Deutschland zunehmend unter sowjetischen Druck und Einfluß.
Während wir uns in unserer Antwort unter dem Blickwinkel der öffentlichen Meinung in Deutschland selbstverständlich auf freie Wahlen und die Einheit konzentrieren müßten, sollten wir ganz klar in unserer eigenen Absicht sein, ein geeintes Deutschland nicht zu akzeptieren, selbst bei wirklichen freien Wahlen, bevor wir nicht wüßten, daß auch ein für uns zufriedenstellender Friedensvertrag in kurzem abgeschlossen werden könnte ...
In dem Telegramm des Quai d'Orsay wurden dann die folgenden Punkte aus der Sowjet-Note kommentiert:
(1) Saar. Die sowjetischen Vorschläge bedeuteten, daß Polen die Oder- Neiße-Grenze haben, Frankreich aber die Saar verlieren würde.
(2) Neutralisierungsklausel. Dies würde natürlich die vollständige Preisgabe der EVG und unserer gesamten gegenwärtigen Europa-Politik bedeuten.
(3) Militärische Klauseln. Als neues Element ist eingebracht worden, daß nicht nur die Truppen abgezogen, sondern auch die Stützpunkte aufgelöst werden müssen. Der wirklich entscheidende Punkt sowohl hinsichtlich der militärischen Klauseln als auch der Neutralisierungsbestimmung sei, daß hier überhaupt keine Regelung für irgendeine Kontrolle enthalten sei.
(4) Wirtschaftliche Klauseln. Diese seien möglicherweise sogar noch gefährlicher, da Deutschland völlig frei im Handel mit dem Osten wäre, während andere westeuropäische Länder bedeutende Einschränkungen ihrer Handelsbeziehungen mit der Kommunistischen Welt akzeptiert hätten. Deutschland könnte sehr rasch zu einer gefährlicheren wirtschaftlichen Größe als je zuvor heranwachsen, indem es in einem immensen Umfange Handel mit seinem natürlichen "Hinterland" in Osteuropa und auch in Rußland und China betreibe. Darüber hinaus könnte Deutschland in keiner Weise gehindert werden, eine ausgedehnte Rüstungsindustrie zur Versorgung der Truppen der Sowjetunion und ihrer Satelliten aufzubauen, selbst wenn die Rüstungsproduktion zur Ausrüstung seiner eigenen Armee auf einem relativ niedrigen Niveau gehalten werden könnte.
Mit anderen Worten, der Quai d'Orsay fürchtet, daß die sowjetischen Vorschläge im Endergebnis ein reiches und wirtschaftliches starkes Deutschland schaffen würden, das jedoch militärisch von der Sowjetunion dominiert würde und aus den genannten Gründen auch unter sowjetischer wirtschaftlicher Vorherrschaft stände. Insgesamt hat der Quai d'Orsay seine ursprüngliche Sicht modifiziert und denkt jetzt, daß die sowjetischen Vorschläge sehr viel mehr als ein taktischer Zug seien, nämlich ein ernsthafter, aber sehr gefährlicher Versuch, die Deutsche Frage zu lösen.*
Frank K. Roberts, 14. März 1952
* Handschriftlicher Zusatz von Außenminister Eden zu dem letzten Absatz der Aufzeichnung: "Das ist immer meine Meinung gewesen, d. h. daß die Sowjets in diesen Vorschlägen ernsthaft sind, weil sie ihnen, obschon eine Gefahr darin liegt, insgesamt gut passen würden."
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