Dokument 106.1
Die gespaltene Industriefront. Zusammenfassende Ergebnisse aus: Reinhard Neebe, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930-1933, Göttingen 1981
Urheber
Reinhard Neebe
Datum
1981
Bestand/Sign.
Reinhard Neebe, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930-1933, Göttingen 1981, S. 200-203
Die gespaltene Industriefront. Zusammenfassende Ergebnisse aus Reinhard Neebe, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930-1933, Göttingen 1981
Die Großindustrie verfügte in dem „pluralistischen System organisierter Interessen” des Weimarer Staates über weitreichende politische Einflußchancen. Sie konnte ihre Bedürfnisse wirksam organisieren und besaß zugleich die Fähigkeit, dem Gesamtsystem restriktive Bedingungen aufzuerlegen. Die Chance zur Durchsetzung von solchen ökonomischen oder politischen Zielen, die jenseits eines gemeinsamen Grundkonsensus innerhalb der Industrie lagen, war allerdings wesentlich eingeschränkt. Schwerindustrie und Leichtindustrie standen sich in der Weimarer Republik trotz vielfacher organisatorischer und interessenpolitischer Verschränkungen als tendenziell antagonistische Gruppierungen gegenüber. Während die Schwerindustrie vor allem durch den Bergbau-Verein, aber auch den mächtigen Regionalverband der Ruhrwirtschaft, den Langnam-Verein, ihren Einfluß geltend machen konnte, fehlten der verarbeitenden Industrie entsprechende Organisationsfiguren. Andererseits konnte diese Industriegruppe im DIHT, vor allem aber im Präsidium des RDI, ihr tatsächliches Gewicht zunehmend zum Ausdruck bringen und ihre dortige Führungsposition zu Beginn der Weltwirtschaftskrise weiter ausbauen.Keine der beiden industriellen Hauptgruppen verfügte angesichts dieser Voraussetzungen über die Chance, im Konfliktfalle ihre Strategie zu oktroyieren und gesamtverbindlich durchzusetzen. Die Kräfteverhältnisse innerhalb des industriellen Spektrums sind demnach durch die Betonung einer „Veto"-Position der Schwerindustrie nur unzureichend gekennzeichnet. Tatsächlich herrschte eher eine „Patt"-Situation zwischen den Polen der Industrie. Diese Konstellation prägte sich in der Krise noch deutlicher aus und war überdies überlagert von einem andauernden Spannungsverhältnis zur Landwirtschaft. Die Mechanismen zur Regulierung grundsätzlicher Konflikte innerhalb der Industrie und in ihrem Verhältnis zur Landwirtschaft waren 1932/33 kaum noch funktionsfähig. Dies dokumentierte sich u. a. im Gelsenberg-Streit im Sommer 1932 oder in der öffentlich ausgetragenen Fehde zwischen RDI und Reichslandbund im Januar 1933.
Die relative Autonomie des Staates verstärkte sich in der Weltwirtschaftskrise und spiegelte sich innenpolitisch im System der Präsidialkabinette wider. Dabei konnte die Exekutive auch grundlegende politische Entscheidungen gegen das Votum maßgeblicher Industriekreise durchsetzen: Für das Verhältnis von Ökonomie und Politik in der Übergangsphase zum autoritären Staat ist z. B. bemerkenswert, daß der „Reichsverband der Deutschen Industrie” das weitreichende verfassungspolitische Revisionskonzept Brünings zunächst nicht teilte und an einem formal-parlamentarischen System festhielt. Der Versuch des RDI, im Sommer 1930 und 'dann unmittelbar nach der Reichstagswahl vom 14. September 1930 auf eine Erneuerung der Großen Koalition hinzuwirken, scheiterte vor allem am Widerspruch des Kanzlers. Zu diesem Zeitpunkt dominierten damit die Vorgaben der politischen Führung, wenn auch die Industrie zuvor entscheidend zum Rücktritt des Kabinetts Hermann Müller beigetragen hatte.
Die Abgehobenheit des politischen Entscheidungsprozesses im Präsidialsystem dokumentierte sich auch in wichtigen Teilbereichen staatlicher Krisenpolitik. So wurde Brünings überzogene Deflationspolitik, die dem Primat der Außen- bzw. Reparationspolitik bedingungslos untergeordnet war und die die sozialen Voraussetzungen für die großen Wahlerfolge der NSDAP 1932 mit schuf, ab Sommer 1931 von wichtigen Teilen der Wirtschaft nachdrücklich kritisiert, ohne daß die notwendige Kursänderung erfolgt wäre.[…]
Insgesamt bleibt festzuhalten, daß die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler bei gespaltener Industriefront erfolgte. Der offenbare Sieg der Thyssen-Gruppe und die Unterordnung der gemäßigten Schwerindustrie und der Exportindustrie stellte dabei nicht Voraussetzung und Ursache der Machtergreifung dar, sondern war im Gegenteil deren Folge.
Für die Frage nach dem strukturellen Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus ist kennzeichnend, daß die Großindustrie auch in der offenkundigen Krise des überkommenen Wirtschaftssystems am Modell des liberalen Kapitalismus festhielt und die Störungen im ökonomischen Reproduktionsprozeß auf die politisch-soziale Ordnung von 1918/19 zurückführte. Dies wurde im Kampf gegen den „Staatsinterventionismus”, zuerst gegen die unmittelbare Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien, dann gegen die „Kalte Sozialisierung” zum Ausdruck gebracht. Die Gebrochenheit der liberalen Ideologie dokumentierte sich vor allem in der Haltung gegenüber den Gewerkschaften und in der Sozialpolitik. Die offene Gewerkschaftsfeindlichkeit der NSDAP, ihr Abheben auf Grundelemente der Unternehmerideologie wie „Persönlichkeit”, „Führerprinzip” und „starker Staat” wurde von großen Teilen der Industrie nachdrücklich begrüßt. Andererseits stieß der Nationalsozialismus als verstärkt interventionistisch agierendes System allgemein auf Ablehnung, ganz abgesehen von den massiven Gegensätzen im Bereich der Finanz- und Währungspolitik, insbesondere aber in der Frage Weltmarktorientierung oder Autarkie.
Die Umstellung auf das nationalsozialistische Wirtschaftssystem im Frühjahr 1933 war Ergebnis einer „terroristischen Konsensbildung” und erfolgte durch illegalen Eingriff des NS-Staates in die, wirtschaftlichen Interessenverbände bei gleichzeitiger Ausschaltung der Industrie-Opposition. Die Einschränkung der Unternehmerkompetenz und die Neuorientierung vor allem in der Handelspolitik konnten allerdings durch die Ankündigung forcierter Rüstungsprogramme in Verbindung mit einer am Unternehmerinteresse orientierten Lohn- und Sozialpolitik beinahe reibungslos kompensiert werden.
Eine Gesamtinterpretation der Auflösung der Weimarer Republik und der Herausbildung der nationalsozialistischen Diktatur, die diesen Prozeß vornehmlich aus der Perspektive struktureller Identitäten zwischen Kapitalismus und Faschismus erklären will und vor allem als Ergebnis großindustrieller Aktivitäten für eine Kanzlerschaft Hitlers sieht, greift zu kurz und verdeckt wesentliche Ursachenzusammenhänge: Hier müßten unter Hervorhebung des Primats der Politik im Entscheidungsprozeß 1930-33 vor allem Probleme im Rahmen eines gestörten gesellschaftlichen Umschichtungsprozesses in Deutschland stärker in den Vordergrund gerückt wer-den. Der Erfolg des Nationalsozialismus ist ohne das Bündnis mit den vom Abstieg bedrohten alten Eliten der Großlandwirtschaft, aber auch der Militäraristokratie und anderer Gruppen des Großbürgertums unter Mitwirkung von Bürokratie, Justiz und Staatsverwaltung bei ideologischer Wegbereitung durch antidemokratische und antiliberale Intellektuellenzirkel nicht zu denken. Die Machtergreifung stellt sich so nicht zuletzt als der gescheiterte Versuch dieser Kräfte dar, ihrer sozialen Deklassierung durch die „Einspannung” der NSDAP entgegenzuwirken.
Die Offensive großer Teile der Wirtschaft gegen Demokratie, Parlamentarismus und Weimarer Staat hat zum Sieg des Nationalsozialismus gewiß wesentlich beigetragen, erklärt aber nicht ursächlich die „deutsche Katastrophe” in der Übergangsphase zur modernen Industriegesellschaft.
PDF-Version von Reinhard Neebe, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930-1933, Göttingen 1981, unter http://www.digam.net/expo/grossindustrie/index.htm
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