Bekanntgemacht sei all denen, die dieses Schriftstück sehen, hören oder lesen, dass wir, die Meister und sämtliche Handwerker des Wollenhandwerks zu Weidenhausen, übereingekommen sind, unserem Handwerk zu nutzen und es zu ehren mit allen Artikeln, wie sie hier geschrieben stehen:
- [...]
- Aufnahmebedingungen: Wenn jemand zu den vier Meistern kommt und nach unserer Bruderschaft verlangt, den sollen die vier Meister achten und lehren, wenn er dem Handwerk treu und ehrlich ist, so sollen sie ihm die Bruderschaft verleihen. Wer aber das Handwerk nicht genug achtet, dem sollen sie die Bruderschaft nicht verleihen.Wer die Tochter eines Meisters oder eines Meisters Frau heiratet, die eine Witwe ist, und auch das Handwerk achtet, der soll die Bruderschaft halb kaufen. Die vier Meister sollen niemanden in die Bruderschaft aufnehmen, der unehelich geboren ist.
- Was auch die vier Meister von den Handwerkern wegnehmen, das sollen sie für in Not geratene Handwerker und unser Rathaus [= Zunfthaus in der Lingelgasse] zu Weidenhausen abgeben.
- Einmal jährlich, am Sonntag nach dem Tag des heiligen Jacobs [25. Juli], sollen und wollen wir neue Meister wählen.
- [...]
- Wenn ein Zunftgenosse sich über den anderen beschwert, dann sollen die Klagen zuerst vor die vier Meister gebracht werden, welche unverzüglich gerecht und angemessen darüber urteilen sollen. Wenn sich aber die Meister nicht entscheiden können, dann erst möchten die Genossen ihre Klagen vor das Gericht bringen.
- Wer sich als Angehöriger des Handwerks schlecht und rücksichtslos verhält (u.a. gegenüber den Meistern), der soll solange unbeschäftigt sein, bis er die Bruderschaft erneut gekauft hat, so oft wie es nötig ist.
Auch soll man dies alles, wie es hier geschrieben steht, tun und halten, […] ohne alle Arglist. Und dass dies ewiglich steht und festgehalten wird, haben wir unser Handwerksiegel an diese Urkunde gehängt, die gegeben ist dreizehnhundert Jahre nach Gottes Geburt in dem fünfunddreißigsten Jahr.
Arbeitsaufträge:
- Welche Aufnahmebedingungen formulieren die Zunftmeister? Welche Rückschlüsse lassen diese über ihre Gemeinschaft zu?
- Welche Regeln haben die Zunftmitglieder zu beachten?
- Welche Aufgaben übernimmt die Zunft?
- Die Wollenweber geben sich selbst eine Zunftordnung, nicht der Landgraf. Was kannst du daraus über ihre Bedeutung schließen?
- Recherchiere, welche mittelalterlichen Zünfte es in Marburg noch gegeben hat. Ein Blick in den Stadtplan kann dir dabei helfen.
Erläuterungen:
Die Wollenweber sind die wichtigste Zunft für das Marburger Wirtschaftsleben. Sie stellen Tuch her, dessen Verbreitung sich bis nach Basel, München, Wien und Budapest sowie Krakau verfolgen lässt.
Die Tuchherstellung bestand aus mehreren Arbeitsgängen: So musste die rohe Wolle zuerst gewaschen und geschlagen, dann gekämmt und gesponnen werden. Das so entstandene Garn wurde zu einem Tuch verwebt. Im Anschluss daran wurde das Tuch gewaschen und gewalkt (verfilzt).
Aufgrund der unterschiedlichen Arbeitsgänge waren in der Zunft mehrere Handwerkszweige vereinigt: Weber, Wollschläger, Kämmerinnen und Spinnerinnen, Färber und Walker.
Neben dem in der Quelle erwähnten Zunfthaus errichteten die Wollenweber 1560 ein zweites, noch erhaltenes Zunfthaus, was auf ein gewisses Vermögen hinweist. Das erste wurde 1891 jedoch beim Neubau der Weidenhäuser Brücke abgerissen. Ihre Waren verkauften die Zunftmitglieder in der unteren Etage des 1526 errichteten Rathauses.
Ihr Selbstbewusstsein, bedingt durch ihren Erfolg, drückten die Zunftmeister damit aus, dass sie keine Bestätigung des Landgrafen für ihre Artikel vonnöten hielten.
Die Zunft war auch eine Gemeinschaft, die ihren Mitgliedern eine gewisse Lebenssicherheit bot – dem Artikel 3 ist zu entnehmen, dass in Not geratenen Handwerkern, also Berufsunfähigen, auch Alten und Witwen, eine materielle Absicherung zur Verfügung stand, für die, wie bei einer Art Versicherung, alle Mitglieder aufkamen.
Die Artikel geben auch einen Eindruck über das Ausbildungsverhältnis zwischen Lehrling und Meister: Lehrlinge sich sollten neben dem Erlernen von handwerklichen Fähigkeiten ebenso ein sittliches und soziales Verhalten aneignen. Die Lehrzeit von drei bis vier Jahren verbrachte der Lehrling in der Regel im Haus seines Lehrherren, im Anschluss daran begab er sich auf Wanderschaft, um bei anderen Meistern zu lernen. Da die Zahl der Meister in einer Stadt begrenzt war, blieb oft nur die Möglichkeit, die Witwe eines Meisters zu heiraten, wie es auch in Artikel 2 heißt.
Die Zünfte entschieden, wie viele Meister, Gesellen und Lehrlinge in einem Gewerbe arbeiten durften, so sollte gewährleistet sein, dass alle Mitglieder einen gleichmäßigen Wohlstand erhielten. Um dieses Ziel zu erreichen, mussten sie einheitliche Verkaufspreise, Arbeitszeiten und Löhne festsetzen und überwachen. Auf diese Weise wurde jegliche Konkurrenz unterbunden.
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.